© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/16 / 29. Januar 2016

Eine internationale Angelegenheit
Berlin: Russische Medien befeuern die offenbar erfundene Geschichte um die Vergewaltigung einer 13jährigen durch Südländer
Elena Hickman

Sie steht in der Kälte und wartet auf ihre Kinder: „Ich laß’ meine zwei Kleinen jetzt nicht mehr alleine irgendwohin laufen“, sagt die Frau mit den blonden Haaren und schüttelt vehement den Kopf. Die Mutter fühlt sich hier im Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf inzwischen nicht mehr sicher, „nicht nachdem, was da mit dem Mädchen passiert ist“. Bei dem Mädchen handelt es sich um die 13jährige russischstämmige Lisa (Name geändert), deren angebliche Entführung und Vergewaltigung besonders die russisch-deutsche Gemeinschaft seit Tagen in Atem hält.

Berliner Polizei: Es gab keine Vergewaltigung 

Das russische Staatsfernsehen hatte am 16. Januar behauptet, das Mädchen aus Mahlsdorf sei von „drei Männern mit südländischen Ausehen“ entführt und 30 Stunden lang vergewaltigt worden. Die Polizei widersprach dieser Schilderung kurz darauf, trotzdem wurde die Geschichte besonders in den sozialen Netzwerken immer weiter verbreitet. Es kam zu Demonstrationen – erst nur in Berlin unter anderem am vergangenen Wochenende vor dem Kanzleramt, dann in ganz Deutschland. Rund 700 Menschen mit mehrheitlich russischem Migrationshintergrund versammelten sich in Schweinfurt, in Villingen-Schwenningen fand eine Demonstration von etwa 1.300 Rußlanddeutschen unter dem Motto „Gegen Gewalt und für mehr Sicherheit in Deutschland“ statt. In Ulm kamen rund 300 Menschen zusammen, in Aschaffenburg einhundert.

Die Geschichte von Lisa kennt inzwischen jeder in Marzahn-Hellersdorf, sie ist das Hauptgesprächsthema. Die Siebtkläßlerin war am 11. Januar auf dem Weg zur Schule verschwunden. Am selben Tag stellten die besorgten Eltern eine Vermißtenanzeige bei der Polizei. Erst am nächsten Tag tauchte das Mädchen wieder in Hellersdorf auf; Passanten fanden sie und riefen die Polizei. Lisa erzählte den Passanten, drei „Südländer“ hätten sie am Bahnhof Mahlsdorf entführt. Mit einem Auto sei sie in eine unbekannte Wohnung gebracht worden. Dort hätten die Männer sie geschlagen und vergewaltigt.

Das Landeskriminalamt (LKA) übernahm die Ermittlungen und befragte Lisa erst im Beisein ihrer Eltern, später noch einmal alleine. Die 13jährige veränderte ihre Aussage und gab an, freiwillig in das Auto gestiegen zu sein. Die Beamten hätten Lisa unter Druck gesetzt, wirft die Familie der Polizei daraufhin vor und schaltet einen Anwalt ein – Alexej Danckwardt, Sprecher für Beschäftigungspolitik der Linkspartei in Leipzig.

Ein Video des russischen Senders „Perwij Kanal“ befeuert die Diskussion noch weiter und wurde in den sozialen Medien mittlerweile knapp 1,7 Millionen Mal angesehen. Das Video zeigt angebliche Verwandte und Bekannte von Maria, die von der Vergewaltigung durch Migranten berichten. Inzwischen wurde gegen einen russischen Journalisten aus dem Video von einem Anwalt Strafanzeige wegen Volksverhetzung gestellt. Am 18. Januar veröffentlichte die Polizei auf ihrer Facebook-Seite eine Klarstellung, um die Gerüchte aus der Welt zu schaffen. Fakt sei, „nach den Ermittlungen unseres LKA gab es weder eine Entführung noch eine Vergewaltigung“, sagt die Polizei und bittet gleichzeitig „um Ihr Verständnis, daß wir nähere Angaben insbesondere zum Schutz der Persönlichkeit des Mädchens und ihrer Familie nicht machen werden“.

Eine klare Aussage, die aber bei vielen auf taube Ohren stößt. „Warum sollte die Mutter so etwas sagen, wenn es nicht stimmt“, fragt eine russischstämmige Frau in Hellersdorf. Sie glaubt den Berichten, die weiterhin von russischen Medien kommen. Die Polizei würde ja sowieso nur das sagen, was die Regierung wolle.

 Inzwischen hat sich die Berliner Staatsanwaltschaft in den Fall eingeschaltet und gegen zwei Männer ein Verfahren wegen sexuellen Mißbrauchs eines Kindes eröffnet. Das bestätigte der Pressesprecher der Staatsanwaltschaft, Martin Steltner, auf Anfrage der JUNGEN FREIHEIT. Es handele sich dabei um einen Türken und einen Deutschen mit türkischem Migrationshintergrund. Beide seien keine Asylbewerber. Gern würden „wir ein paar Sachen klarstellen“, sagt Steltner. Aber das gehe nicht, denn der Schutz des Kindes und der Familie stehe an erster Stelle. Allerdings sagte er: „Es kam zu einem einvernehmlichen sexuellen Kontakt.“ Dieser Kontakt soll jedoch schon vor dem Verschwinden Lisas stattgefunden haben. Aufgrund des Alters von Lisa ermittelt die Staatsanwaltschaft deshalb jetzt wegen sexuellen Mißbrauchs. Das Kind sei in falsche Kreise gekommen, sagt Steltner, von denen die Eltern nichts wußten. 

Soweit die öffentlich gemachten Erkenntnisse der Polizei. Aus dem Umfeld des Mädchens ist ähnliches zu hören. Lisa habe einen ausländischstämmigen Freund gehabt, der ihr auch freizügige Bilder über den Nachrichtendienst WhatsApp geschickt habe. Zu diesem Freund sei sie freiwillig ins Auto gestiegen, danach sei die Situation aber „aus dem Ruder gelaufen“.

Russische Medien zeigen sich davon unbeeindruckt und verbreiten weiter die Geschichte von der von Migranten vergewaltigten Lisa. Am Dienstag, noch bevor die Öffentlichkeit über die beiden Verdächtigen informiert worden war, hatte sich sogar Rußlands Außenminister Sergej Lawrow eingeschaltet. In Moskau warf er den deutschen Behörden vor, „die Realität aus innenpolitischen Gründen politisch korrekt zu übermalen“.

Nach den Ereignissen in der Silvesternacht von Köln fällt die Geschichte von Maria bei vielen auf fruchtbaren Boden. In Marzahn-Hellersdorf entlädt sich jetzt nicht nur Angst und Mitgefühl für Lisa, sondern auch Ärger. Denn „hier sind ja so viele Flüchtlinge“, ärgert sich die Mutter der zwei Kinder. „Ich seh doch auch, was die alles kaufen können“, schimpft sie, „die Sachen kann ich mir nicht leisten.“ 

Foto: Demonstration von Rußlanddeutschen am Wochenende in Villingen-Schwenningen: Auch der russische Außenminister meldete sich zu Wort