© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/16 / 29. Januar 2016

Kap der Angst
Vor 400 Jahren entdeckten holländische Seeleute Kap Hoorn / Diese Wegmarke wurde zum Mythos einer seemännischen Herausforderung
Matthias Bäkermann

Vielleicht hatte gerade einmal nicht der Regen in die Gesichter gepeitscht, so wie sonst die meisten Tage im Januar. Dennoch dürfte die Stimmung genauso schlecht gewesen sein wie der gewöhnliche Sommer in diesen südlichen Breiten, welche die „Eendracht“ 1616 durchsegelte. Indessen zermürbte die seefesten Holländer nicht die rauhe See oder die Knochenarbeit an Bord und in den Rahen, die das unentwegte Kreuzen gegen den unerbittlichen Westwind einforderte. 

Schlimmer als eintönige Deckswachen, das karge Essen, die ständig frostig-klammen Hände bei kühlen 5 bis 8 Grad und die niemals mehr trocknende Kleidung bedrückte alle die stickige Enge auf dem Schiff. Diese galt es zu ertragen, seit vor einigen Wochen das Flaggschiff der Expedition, die nach der Heimatstadt des Kapitäns Willem Schouten benannte „Hoorn“, bei einem Proviant- und Reparaturhalt in Patagonien Feuer gefangen hatte. Nun kauerten 65 Mann auf dem 30 Meter langen und knapp neun Meter breiten Dreimaster. Und dazu war ihr Törn von einer bleiernen Ungewißheit beschwert, dem Ende der Welt entgegen.

Dabei hätte alles so einfach sein können, wäre ihr Auftraggeber, der Amsterdamer Kaufmann Isaac Le Maire, nicht so jähzornig gewesen und hätte sich nicht mit seinen Getreuen von der Niederländischen Ostindien-Kompanie (VOC) überworfen. Der Weg in den gemäßigten Gefilden um das Kap der Guten Hoffnung Südafrikas hätte offengestanden, um die Gewürzinseln im heutigen Indonesien zu erreichen. Nun aber war diese Route für Le Maires Schiffe tabu, da die mächtige Handelsorganisation diesen Seeweg argwöhnisch für sich beanspruchte. Verstöße dagegen hätten nicht nur jeden Handel in den heimischen Häfen ausgeschlossen, sondern Kapitän und Mannschaft in Acht und Bann gebracht. 

Ja, selbst die einzige bekannte Möglichkeit, um mit Westkurs über Atlantik und Pazifik an die wertvollen Gewürznelken, Muskatnüsse und Pfefferkörner auf den Molukken zu gelangen, blockierte die allmächtige VOC: die Magellanstraße. Ohnehin war dieses fast hundert Jahre zuvor entdeckte Nadelöhr durch den amerikanischen Doppelkontinent für Segelschiffe äußerst schwer und gefahrvoll zu passieren, da das gegen die Strömung und den Westwind notwendige Kreuzen wegen der Enge der Passage und ihrer unheilvollen Riffe und Untiefen fast aussichtslos war. 

Als Schouten und seine Männer am 29. Januar 1616 schließlich die grauen Klippen einer kleinen, dem südamerikanischen Festland vorgelagerten Insel Richtung Westen passierten, gedieh ihre verzweifelte Hoffnung zur Gewißheit, doch eine Passage um Südamerika herum gefunden zu haben. Kap Hoorn nannten sie diesen Felsklotz als fernen Gruß an die Heimat. 

Vielleicht ahnten sie nach den Strapazen in dieser unwirtlichen Zone bereits, daß diese Wegmarke für die Seefahrt größere Bedeutung erlangen sollte: als Mythos einer erstrangigen Herausforderung.  „Wenn du alt werden willst, dann meide Kap Hoorn und reffe rechtzeitig die Segel“, raunten sich später die Seeleute zu, wenn sie vom „Sturmkap“ und dem „Eingang zur Hölle“ sprachen. Charles Darwin meinte später sogar, „selbst der Teufel würde hier erfrieren“. 

Den Respekt und die Angst vor dieser nautischen Feuertaufe minderten diese Warnungen natürlich nicht, weil im Zweifelsfall keinem Seemann eine Wahl offenstand. Wer angeheuert hatte, mußte spuren und selbst der Kapitän, welchem die Entscheidung des Segelreffens oder gar der Kursänderung zustand, mußte höheren Instanzen gehorchen. Seefahrt war eben kein Selbstzweck.

Unbarmherzige 99 Tage mühte sich die Mannschaft der „Susanna“ 1905, um die Passage zu meistern. Dabei wurde der Übertritt von den „Brüllenden Vierzigern“ zu den „Rasenden Fünfzigern“ bei den Falklandinseln bis zu dem Punkt gemessen, wo die Schiffe an der chilenischen Pazifikküste den 50. Breitengrad wieder Richtung Norden überschritten. So galt es, den „brüllenden“, „rasenden“ oder sogar „schreienden“ (ab 60. Breitengrad) Stürmen im Zickzackkurs die Stirn zu bieten, die in dieser subpolaren Region ungebremst von Landmassen wie Derwische um den Erdkreis tanzen. Über 800 Schiffe verunglückten bis heute vor Kap Hoorn, sie sanken mit Mann und Maus im Orkan, zerschellten an Eisbergen oder wurden von Strömung und Wind an die steinigen Küsten Feuerlands gedrückt. 2012 lichtete der Fotograf Jürgen Hohmuth diesen größten Schiffsfriedhof für seinen imposanten Bildband „Wracks am Ende der Welt“ ab (Koehler & Amelung, Leipzig 2012, 156 Seiten, 19,95 Euro).

Manche scheiterten auch ohne Havarie an Kap Hoorn. Der Berühmteste dürfte Kapitän William Bligh gewesen sein, der mit seiner „Bounty“ fast einen Monat gegen die Weststürme ankämpfte, um dann doch entnervt und erschöpft den ungleich längeren Seeweg um Afrika und Australien nach Tahiti zu wählen. Das machen „nur ängstliche Kapitäne mit schlecht ausgebildeten Mannschaften“, lästerten Seeleute dann, die als Kaphoorniers den inoffiziellen Meisterbrief der Schiffahrt bereits erworben hatten. Der Stolz, ihre Bewährungsprobe unter dem Kreuz des Südens bestanden zu haben, schmiedete die Männer oft bis ans Ende ihrer Tage zusammen. 1937 gründete sich sogar eine exklusive Institution, die „Bruderschaft der Kapitäne auf großer Fahrt, Kaphoorniers“ im französischen St. Malo, um dort in nationenübergreifender Kameradschaft das Gedenken an die 10.000 Ertrunkenen zu pflegen, die an der Südspitze Südamerikas ihr nasses Grab fanden, und auch die Erinnerung an die eigene seemännische Katharsis zu pflegen. 

Richtige Kap Hoorniers mußten natürlich ihre Passagen auf Handelsschiffen und „vor dem Mast“ überstanden haben. Da Umsegelungen aber aus wirtschaftlichen Zwecken bereits mit der Eröffnung des Panamakanals 1914 immer seltener wurden, mußten die letzten 400 immer betagteren Kaphoorniers, die noch bis in die vierziger Jahre auf Windjammern Dienst taten, ihre Gemeinschaft schließlich auflösen. In einem bewegenden Moment sangen die alten Fahrensmänner beim letzten großen Treffen in der Normandie 2003 noch einmal ihr „Rolling home“ und falteten die Fahne mit dem Albatros zusammen, auf daß der letzte sie ins Grab nehmen werde.  

Ihr Symbolvogel, in dessen Gestalt nach altem Seemannsglauben die Seelen auf See verstorbener Matrosen zurückkehren, schmückt seit 1992 auch das Denkmal auf der kleinen chilenischen Insel Hornos unweit des berüchtigten Kaps. Es war bezeichnend, daß die zweiteilige Stahlskulptur, deren Zwischenraum einen Albatros dargestellt und die Stürmen mit bis zu 200 Stundenkilometern trotzen sollte, den Winden auf 55° 59’ südlicher Breite nicht standhielt. Am 10. November 2014 riß ein Orkan das Denkmal mitleidlos auseinander.