© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/16 / 29. Januar 2016

Humanität zahlt sich nicht aus
„Wer sieht uns, wenn wir zugrunde gehen?“ – Milo Rau erzählt an der Berliner Schaubühne vom Mitleid
Sebastian Hennig

Der Schweizer Autor und Regisseur Milo Rau ist gegenwärtig einer der angesagtesten europäischen Theatermacher. Im April war am Münchner Residenztheater mit „Dark Ages“ (JF 22/15) der zweite Teil seiner Europa-Trilogie zu sehen. Der Abschluß „Empire“ soll sich im kommenden August an der Schaubühne ereignen, wo sich kürzlich mit dem Agitprop-Stück   „Fear“ (JF 46/15) ein Abgrund an denunziatorischer Selbstgefälligkeit auftat.

Die Berliner Theaterszene empfindet sich als selbstreflektiert, kritisch und hellwach. Man ist stolz darauf, viele Fragen zu stellen und alles, einschließlich sich selbst, in Frage zu stellen. Milo Rau ist das keineswegs genug: „Kritik ist aber, wenn sie das Kritisierte nicht abschafft oder entscheidend verändert, bloße Stilkritik und damit eine Form von Passivität.“

Jetzt ereignete sich dort die Uraufführung seines Stückes „Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs“. Der Autor hält dem geschäftigen Pharisäertum seine „politische Psychoanalyse“ Europas entgegen. Dazu bedient er sich äußerlich der konformen Merkmale des Unkonventionellen, zwingt das Publikum zuzuhören und entwindet die Handlungserzählung durch geschickte Drehungen der routinierten Belanglosigkeit gängiger Theaterexperimente. Seine Schauspieler wandern auf autobiographischen Pfaden ganz in seine Figuren hinein. Sie verbinden sich mit ihnen, und die Figuren werden zugleich Schauspieler. Die Wirkungsweise ähnelt dem Stück im Stück, das Shakespeares Hamlet veranlaßt, um die Regungen seiner Mutter und seines Stiefvaters auszulösen.

Die Bühne ist rund wie eine Zirkusarena, gleichmäßig mit zerstörten Einrichtungsgegenständen bedeckt. Wir vernehmen den fiktiven Monolog einer Entwicklungshelferin. Jedem Schritt durch den Wust aus zerstörtem Hausrat muß die schlanke blonde Frau im blauen Kleid auf ihren hochhackigen Schuhen behutsam eine Trittstelle sichern. Ursina Lardi erinnert ihre Erlebnisse als unerfahrene Junglehrerin im Kongo zu Beginn des Bürgerkriegs der neunziger Jahre. Die Fähigkeiten der Helfer waren auf Sprache und Erste Hilfe beschränkt. Kenntnisse der Geschichte und Politik spielen bis heute keine Rolle bei den NGOs.

Busladungen arabischer Hipster

An einem Schreibtisch im Hintergrund sitzt ihre 26jährige burundische Kollegin Consolate Sipérius. Mit viereinhalb Jahren überlebte sie als einzige das Massaker an ihrer Familie und wuchs als adoptierte Waise in einer belgischen Provinzstadt auf. Lardi berichtet zunächst von ihrer Reise auf der Balkanroute. Das vermeintliche Leid der Flüchtlinge entpuppt sich als frivoles Theater. Tausendmal schwerer wäre ein AC/DC-Konzert zu organisieren als derartige Lager, in die sich vor ihren Augen Busladungen arabischer Hipster ergießen. Ihnen gegenüber hätte sie sich fast ein wenig geschämt in ihren Alltagsklamotten. Dabei versteht sie, daß die jungen Männer nicht stumpfsinnig schuften wollen. „Man hat studiert und soll im Irak auf dem Bau arbeiten. Da flieht man lieber weiter und setzt den Master drauf.“ Umgekehrt verwandelt sich jedes tragische Schicksal durch mediale Vermittlung in eine Schmierentragödie.

Die wohl überwiegend fiktive Identität der Schauspielerin Lardi wirkt dagegen glaubwürdiger als alle Kenntnisse der Wirklichkeit jenseits eigener Erfahrung. Hier wird listig und handwerklich gut Theater gespielt. Mit dieser List gelangen schließlich Tatsachen zum Vorschein, die üblicherweise gerade von ihrer Benennung verdeckt werden. Die Schauspieler sind Komplizen des Autors beim Sichtbarmachen. So wie der Boden der Bühne von Unrat bedeckt ist, so werden im Stück nacheinander die üblichen Rastplätze selbstgerechter Seelen verwüstet. Aus dem Ungewissen erheben sich unnennbare Ahnungen. „Wer sieht uns, wenn wir leiden? Wer sieht uns, wenn wir zugrunde gehen?“

Es wird klar, daß wir ebensowenig von unserem sittlichen Empfinden abrücken dürfen, wie wir von den schrecklichen Tatsachen absehen können. Wenn wir diese in jene einhüllen, sind sie doch nicht verschwunden, nicht einmal gemäßigt oder gelindert. Letztlich kreist in dem Stück die Irritation in mehreren Schleifen einem Gott entgegen. Dessen Gewißheit läßt sich nicht mehr am vorherrschenden Nihilismus vorbei geradlinig erschleichen. Der seelische Notstand ist unumgehbar, wie ihn Dostojewski in seinen Romanen ausgebreitet hat.

Das Stück erlangt durch seinen darstellerischen Ernst und die Künstlichkeit der Dokumentarcollage eine Würde, wie sie das Theater sich sonst nur noch in der artifiziellen Musikdramatik aufbewahrt hat. Dort setzt nämlich die musikalische Notierung jeder individuellen Einfühlung klare Grenzen. In einer Oper gibt es keine Psychologie, dort wird immer anmutig gelitten und gestorben. Darum sind aber die so ausgedrückten Gefühle nicht weniger echt.

Der unaufdringliche Hinweis auf die professionelle Rollenerfahrung der Schauspielerinnen ist von wesentlicher Bedeutung. Consolate Sipérius verkörperte Antigone in einer modernen Bearbeitung, während Ursina Lardi von einem spitzfindigen Regisseur als ein weiblicher Ödipus besetzt wurde. Sie besteht darauf, daß Ödipus die Verstrickung in seine Taten immer bewußt gewesen ist. Diese gegenwärtige Verknüpfung von Wirklichkeit und Kunst rückt das seltsame Werk in die Nähe des ältesten Dramas der Menschheit. „Die Perser“ von Aischylos wurden nur acht Jahre nach der Schlacht aufgeführt, von der es handelt.

Es gibt keinen Grund, die Stabilität der Kunst dem Nihilismus preiszugeben. Niemand wird dadurch gerettet. Ganz im Gegenteil hat das direkte und indirekte Moralisieren dem Theater seine Kraft geraubt. „Wie Teenager, die zu viele Pornos geguckt und dadurch asexuell geworden sind, sind wir unpolitisch geworden, weil wir zuviel symbolisches Engagement konsumiert haben“, sagte Milo Rau in einem Interview zum Stück. Er ist der Arzt oder Apotheker, der vor dem rauschhaften mißbräuchlichen Konsum des Mitleids warnt. „Die Sachlage ist einfach: Wir können nicht gut und zugleich reich sein. Humanität zahlt sich nicht aus.“ Es kommt darauf an, wer am Ende des Tages die Maschinengewehre hat, heißt es im Stück.

Der Abend mündet in zwei Signale, die zugleich so etwas wie Antworten enthalten. Von einem Jesuiten wird berichtet, wie er nach einem grausamen Massaker an Ordensbrüdern in der Besinnung auf Gott die einzige Hilfe findet. Nachdem verschiedene Geräusche Afrikas, die Vögel, die Radiomusik und die nächtlichen Frösche zu hören waren, läßt Consolate Sipérius ganz zuletzt eine Aufnahme mit dem Lärmen spielender Kinder hören, wie es den klanglichen Hintergrund fast aller Berichte und Reportagen aus Afrika durchzieht.

Die nächsten Vorstellungen an der Berliner Schaubühne am Lehniner Platz, Kurfürstendamm 153,  finden statt am 29. , 30. und 31. Januar sowie am 10., 11. und 14. Februar. Kartentelefon: 030 / 890023

 www.schaubuehne.de