© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/16 / 29. Januar 2016

Alleinverantwortung für den Zweiten Weltkrieg gibt es nicht
Das Erfolgsbuch „Der Krieg, der viele Väter hatte“ von Gerd Schultze-Rhonhof liegt nun neunter, nochmals verbesserter und erweiterter Auflage vor
Stefan Scheil

Als steter Tropfen der Information fällt seit mehr als zehn Jahren Gerd Schultze-Rhonhofs Werk über den „Krieg, der viele Väter hatte“ unter das deutsche Volk. Nun liegt die mittlerweile neunte Auflage seiner Darstellung über die Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs vor, verbessert und erweitert.

Der Befund bleibt gleich: Eine deutsche Alleinverantwortung für den Zweiten Weltkrieg gibt es nicht. Schultze-Rhonhof stellt in einem neuen Vorwort zu dieser Auflage Überlegungen darüber an, warum sich dies trotzdem nicht weiter herumspricht. Er beharrt dabei auf seiner Ansicht, es seien die Bestimmungen der Verträge zwischen der Bundesrepublik und den Siegerstaaten, die einen entscheidenden Einfluß auf das schiefe Geschichtsbild der Bundesrepublik ausgeübt hätten. Doch sollte man sich die deutschen Historiker wirklich nicht als einen Personenkreis vorstellen, der sich vom vertraglich bekräftigten Urteilstext des Nürnberger Tribunals aus dem Jahr 1946 an der Verbreitung einer ansonsten gerne von ihm erzählten Botschaft gehindert fühlt. 

Die Kriegsschuldthese hatte hohen Ausbeutungswert

Zutreffend ist dagegen Schultze-Rhonhofs Beobachtung, daß eine große Mehrheit der Bundesdeutschen diese Feststellung fehlender Verantwortung einfach nicht hören will. Das gilt auch für die Historiker als Teil dieser Bevölkerung, vorwiegend aus politisch-gesellschaftlichen Motiven. Die öffentlichen Geschichtsdebatten der Bundesrepublik orientierten sich nicht an juristischen oder wissenschaftlichen Kategorien. Das galt für die Wehrmachtsdebatte der neunziger und für den Historikerstreit der achtziger Jahre ebenso, wie für die Fischer-Kontroverse der sechziger Jahre. Letztere ist ein besonders gutes Beispiel dafür, wie eine auch hier eine als unsinnig erkennbare und zigfach widerlegbare Auffassung wie die der deutschen Hauptverantwortung für den Kriegsausbruch von 1914 in gesellschaftskritischer Absicht zum allgemeinen Pseudowissen hochgeschrieben wurde. 

Das folgte der steten Sozialdemokratisierung der Bundesrepublik und wurde bewußt vorangetrieben, denn den innenpolitischen Ausbeutungswert der Kriegsschuldthese haben die Sozialdemokraten früh erkannt. Sie haben sie wohl sogar erfunden. Schon 1907 stellte sie der damalige Parteichef Bebel seinen Gesprächspartnern aus der britischen Regierung vor. Jahre bevor der erste Krieg überhaupt ausgebrochen war, schob er die Verantwortung dafür auf Berlin. Mehr als hundert weitere Jahre später arbeitet sich der sozialdemokratisierte Konsens im Lande immer noch daran ab, durch Schuldverweise auf Kriegszeiten alles Konservativ-Nationale politisch zu bekämpfen und im Gegenzug jeden objektiven Nachweis des Gegenteils als politisch motivierte Unwahrheit anzugreifen. Für eine öffentliche Debatte um die komplizierten Ursachen für den Zweiten Weltkrieg fehlte unter diesen Umständen die gesellschaftliche Basis, eine akademische gelang nur in Ansätzen. 

Zur Resignation besteht dennoch kein Anlaß. Die Geschichte ist und bleibt offen und wird auch wieder bessere Möglichkeiten zur Vergangenheitserforschung bieten. Teilweise geschieht dies bereits heute. Eine weitere Neuauflage sollte zum Beispiel die spannende innerpolnische Debatte über das Jahr 1939 berücksichtigen. Es sind dort dazu neue Dokumente publiziert worden. Schultze-Rhonhof meint, Polen hätte sich damals vielleicht anders verhalten, hätte man in Warschau die Einzelheiten des sowjetisch-deutschen Abkommens über die Interessensphären gekannt. Mittlerweile ist klar: man hat. 

Die polnische Regierung war aber der nicht ganz unzutreffenden Meinung, die Sowjets würden ihren deutschen Vertragspartner sofort verlassen, sollten die Westmächte ihre vertraglichen Verpflichtungen gegenüber Polen in vollem Umfang erfüllen. Erst der Betrug der Westmächte an der polnischen Republik erfüllte den deutsch-sowjetischen Pakt dann eine Zeitlang mit Leben und ermöglichte, was der polnische Botschafter in London der britischen Regierung Ende August 1939 für diesen Fall prophezeite: einen deutschen Sieg über Frankreich. Ein weiterer Tropfen Information, der dem deutschen Legendenteich guttäte.

Gerd Schultze-Rhonhof: 1939 – Der Krieg, der viele Väter hatte. Der lange Anlauf zum Zweiten Weltkrieg. Lau Verlag, Reinbek 2015, gebunden, 716 Seiten, 48 Euro