© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/16 / 05. Februar 2016

Die Genossen verlieren die Geduld
Nordrhein-Westfalen: Auch nach der erzwungenen Absage einer SPD-Demonstration gegen eine neue Flüchtlingsunterkunft rumort es in der Partei
Hans-Hermann Gockel

Schon der Gründungsvater der deutschen Sozialdemokratie, Ferdinand Lassalle, hat es gewußt: „Alle politische Kleingeisterei besteht in dem Verschweigen und Bemänteln dessen, was ist.“ Daß ausgerechnet SPD-Genossen in Essen das heute bestätigen können, ist fast schon eine Ironie der Geschichte. 

„Genug ist genug. Integration hat Grenzen. Der Norden ist voll.“ Unter diesem Motto wollten die SPD-Ortsvereine Altenessen, Karnap und Vogelheim am Dienstag vergangener Woche mit einem Protestmarsch gegen die Errichtung weiterer Flüchtlingsunterkünfte in ihrer Stadt demonstrieren. „Die Menschen vor Ort sind nicht mehr bereit und in der Lage, weitere Integrationsleistungen zu schultern“, hieß es in dem mittlerweile wieder gelöschten Aufruf auf der Internetseite des Ortsvereins Altenessen. Sogar Straßenblockaden wollten die Genossen nicht ausschließen: „Wenn sich viele beteiligen, könnten wir es schaffen, den Stauder-Kreisel zu blockieren und den Verkehr zum Erliegen zu bringen“, wurde Stephan Dudo aus dem Ortsverein Essen-Karnap zitiert.  Der Aufstand der Basis war schnell erledigt. Die Parteispitze pfiff die Genossen zurück. 

Die Ministerpräsidentin von Nord-rhein-Westfalen, Hannelore Kraft (SPD), habe am Telefon „sehr unschöne Worte benutzt“, hieß es aus der Staatskanzlei: „Die hatte so einen Hals!“ In einer Presseerklärung gab sich Kraft dann moderat, aber nicht minder deutlich: „Die NRW-SPD steht für eine offene und vielfältige Gesellschaft und eine Willkommenskultur für Flüchtlinge. Protestaktionen, die das in Frage stellen könnten, lehnen wir entschieden ab. Das schadet dem Ansehen der SPD insgesamt.“

Seitdem stellt man sich in Essen die Frage, ob die Ministerpräsidentin des bevölkerungsreichsten Bundeslandes die Lage an Rhein und Ruhr noch richtig beurteilt. Viele Genossen haben da ihre Zweifel. Es rumort – nicht nur in Essen.  

Ein Mann, der dem Unmut vieler SPD-Mitglieder eine Stimme gibt, ist der Ratsherr Guido Reil aus dem Stadtteil Karnap: „In der Bezirksvertretung scheitern Vorhaben an fehlenden 500 Euro. Jetzt kommen die Flüchtlinge ,und da spielt Geld plötzlich keine Rolle mehr. Die Leute fragen sich, woher hat die öffentliche Hand plötzlich die 102 Millionen Euro für den Bau von Siedlungen?“ Kurz zuvor hatte die Stadt ihren Plan bekanntgegeben, komplett neue Wohnsiedlungen und sogenannte „temporäre Unterkünfte“ für bis zu 7.800 Asylbewerber hochzuziehen. Fast alle Objekte sollen ausgerechnet im Essener Norden entstehen, der schon lange ein sozialer Brennpunkt ist. Ganze Straßenzüge gelten als „No-go-Areas“. Sogar für die Polizei. Die libanesische „Gemeinde“, die im Norden von Essen seit Jahren das Sagen hat, besteht aktuell aus mehr als 7.000 Personen. 90 Prozent der Menschen leben von öffentlichen Transferleistungen, also Sozialhilfe und Hartz IV.

„Es muß eine Lösung geben“ 

Der SPD-Ratsherr Guido Reil spricht auch diesbezüglich Klartext: „Ich war lange ehrenamtlicher Richter am Landgericht und habe dort sehr viele Prozesse mit libanesischer Beteiligung erlebt. Was Sie da über die Mentalität lernen, wie sehr die uns und dieses Land verachten und uns auslachen, unsere Sozialgesetze ausnutzen, das ist haarsträubend.“

Reil sagt auch, warum das in Essen viel zu lange verdrängt wurde – und nach wie vor verdrängt wird: „Es herrscht in diesem Land ein bedrückendes Meinungsklima. Es gibt eine fast panische Angst, in die rechte Ecke gestellt zu werden. Ich finde das schlimm. Aber ich habe beschlossen, kein Blatt mehr vor den Mund zu nehmen.“ 

Seine Parteichefin Hannelore Kraft verfolgt eine andere Linie. Und der Westdeutsche Rundfunk offenbar auch. Der WDR, dem erst kürzlich eine eigene freie Mitarbeiterin Hofberichterstattung unterstellt hatte, was die Frau dann Tage später doch nicht so gemeint haben wollte („Da habe ich Unsinn geredet“), ließ die Ereignisse in Essen von seinem landespolitischen Korrespondenten Wolfgang Otto kommentieren. Der fand prompt eine recht spezielle Erklärung für den Protest der SPD-Basis: „Der Essener Vorfall, das muß man so sagen, das ist für die SPD aus Sicht der Parteiführung ein schlimmer Unfall. Und als Unfall würde ich das auch bezeichnen. Also nicht als Ausdruck für die gesamte Linie oder die Stimmung an der Basis. Das ist wirklich ein Unfall gewesen.“

Ein „Unfall“, an den die SPD in Essen allerdings nicht glauben mag. Britta Altenkamp, die Chefin von insgesamt 4.000 SPD-Mitgliedern in der Ruhrgebiets-Metropole, macht „eine ganz große Verunsicherung“ in ihren Reihen aus, vergleichbar mit der Debatte um die Agenda 2010. Der sozialpolitische Sprecher der Essener SPD, Karlheinz Endruschat, geht sogar noch einen Schritt weiter. Er glaubt festzustellen, daß die Stimmung in der SPD „im Begriff ist, zu kippen“. Altenkamp und Endruschat hatten wohl auf mehr Verständnis von Hannelore Kraft gehofft, die stattdessen das Image der Partei in Gefahr sah.

Von SPD-Chef Sigmar Gabriel war überhaupt nichts zu hören. Dafür stellte – gleich nach der Absage ihres Protestmarsches – einer der Genossen einen früheren Gabriel-Satz ins Internet: „Die Gesellschaft braucht Klarheit darüber, daß wir hier nicht so ein zufälliges Siedlungsgebiet sind, wo unterschiedlichste Kulturen sich ansiedeln.“ Gesagt hatte das der SPD-Vorsitzende in der ARD im „Bericht aus Berlin“ im Dezember 2014. 

Und Guido Reil, der SPD-Ratsherr aus Essen-Karnap? Er will nicht resignieren – aber: „Ich weiß nur eines: Es muß eine Lösung geben, so geht es nicht weiter!“