© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/16 / 05. Februar 2016

Lydia räumt Steine aus dem Weg
Aussiedler: Dank einer oftmals erfolgreichen Integration ist es um die Rußlanddeutschen in den vergangenen Jahren stiller geworden
Bernhard Knapstein

Wenn es um die Flüchtlingspolitik geht, wird Lydia D. (43) zornig. „Ich verstehe euch Hiesige einfach nicht – jedes Land würde sich zunächst um seine eigenen Bürger kümmern, bevor es sich auf solche Experimente einläßt“, poltert es aus ihr heraus. Lydia ist eine typische Deutsche aus Rußland. Durch den Fall des verschwundenen rußlanddeutschen Mädchens in Berlin (siehe Meldung auf dieser Seite) ist diese Bevölkerungsgruppe wieder in den Fokus geraten.

Lydia wurde in Sibirien geboren, hat in Tomsk Ingenieurwesen studiert und ist trotz großer rechtlicher Hürden übergesiedelt. Obwohl die Familie ihrer Mutter bis in die neunziger Jahre hinein untereinander Deutsch gesprochen hat, wuchs sie selbst russischsprachig auf. Die Bemühungen der Mutter, die Sprache der nationalen Minderheit weiterzugeben, fruchteten nicht – vielleicht auch, weil der Vater Russe war. Heute lebt sie als eine von 2,7 Millionen Deutschen aus Rußland in der Bundesrepublik. Sie ist integriert, spricht fließend Deutsch und verdient als Ingenieurin in einem großen deutschen Technologiekonzern gutes Geld, auch wenn ihr Universitätsabschluß nur als FH-Diplom anerkannt wurde. Doch das geht Tausenden so, wie Lehrer als Taxifahrer oder Medizinerinnen, die gutbürgerliche deutsche Haushalte reinigen, belegen. Die Nichtanerkennung russischer Studienabschlüsse ist einer der großen Versagensfälle der deutschen Integrationspolitik. Mehr Augenmaß will man jetzt jedem völlig Kulturfremden entgegenbringen, der deutschen Boden betritt. 

Durch manche Familien geht ein Riß

„Aber uns Deutsche hat man damals nicht haben wollen“, erzürnt sich Lydia angesichts der zeitweisen „Refugees welcome“-Euphorie. Sie hat die Steine nicht vergessen, die man ihr als Deutsche, die nach Deutschland übersiedeln wollte, in den Weg gelegt hat. Nachdem allein zwischen 1992 und 1995 knapp 900.000 Aussiedler eingewandert waren, hatten SPD und FDP höhere Hürden und sogar eine Änderung des Grundgesetzes gefordert, nur um den Zuzug zu erschweren. Während Lydias Mutter noch als Volksdeutsche nach dem Bundesvertriebenen- und Flüchtlingsgesetz (BVFG) eingebürgert wurde, mußte sie selbst als „Ausländerin“ schwer um die deutsche Staatsbürgerschaft kämpfen.

Doch Lydia hat es geschafft. Sie hat einen bundesdeutschen Mann geheiratet und mit ihm drei Kinder. Das ist nicht ungewöhnlich – im Gegenteil: Nach einer Studie von 2011 wählen 64 Prozent der Spätaussiedler hier aufgewachsene Partner. Und so wie Lydias Mutter einst an der Vermittlung der deutschen Sprache im russischen Kulturumfeld gescheitert war, so ist es Lydia trotz aller Bemühungen nicht gelungen, ihren Kindern die russische Sprache nachhaltig zu vermitteln. Ihre Kinder kommen über ein paar russische Wortbrocken und ein liebevolles „Ja lublju tebja!“ (Ich liebe dich!) nicht hinaus. Das ist kein Einzelfall: In Lydias christlicher Gemeinde sind 95 Prozent der Gemeindemitglieder russische oder ukrainische Muttersprachler, doch keines der zahlreichen Kinder und Jugendlichen, die bereits in der Bundesrepublik geboren wurden, spricht ein ausgeprägtes Russisch. Auch das ist Ausdruck einer bereits vollzogenen Integration.  

Während ihre Mutter noch einen Bezug zur Landsmannschaft der Deutschen aus Rußland hat, ist Lydia nach einer kurzen Mitarbeit aus der Organisation wieder ausgeschieden. „Zu viele alte Menschen, die fast nur über ihr Deportationsschicksal sprechen“, erklärt Lydia lapidar. Sie hatte sich vor der Geburt ihrer Kinder mehr für junge russische Szenetreffs mit Liedermachern interessiert oder habe sich mit anderen jungen Russinnen und Rußlanddeutschen getroffen, um gemeinsam Spaß zu haben und „einfach zu leben“. Das gelegentliche Eintauchen in die russischsprachige Szene ist die normale Grätsche zwischen zwei Welten, die die Rußlanddeutschen mit Russen, Ukrainern und den mehr als 250.000 ab 1991 zugewanderten jüdischen Kontingentflüchtlingen vereint.

Doch Lydia spiegelt nur einen Teil der Spätaussiedler wieder. Der Riß zwischen Integrierten und Nicht-Integrierten verläuft auch durch ihre Familie. Der ältere Bruder spricht nur sehr gebrochen Deutsch, ist arbeitslos und am Rande des Alkoholismus. Das von ihm frequentierte Milieu ist dementsprechend russischsprachig und war wohl früher auch anfällig für Kriminalität – insbesondere dann, wenn Alkohol floß.

Ende der neunziger Jahre waberte die Spätaussiedler-Kriminalität als Dauerbrenner durch die Medien. Statistiken wiesen noch in der ersten Dekade nach der Jahrtausendwende eine leichte Signifikanz der Spätaussiedlerkriminalität auf, die allerdings noch deutlich unter der Kriminalitätsquote bei „nichtdeutschen Türken“ lag. Heute, mehr als zehn Jahre später, spielen die Spätaussiedler in den Kriminalitätsstatistiken keine signifikante Rolle mehr. Der weitgehend hohe Bildungsstand sowie der Integrationswille der Deutschen aus Rußland war – anders als in den vor mehr als 40 Jahren zugewanderten Gastarbeiterfamilien – von Anfang an sehr ausgeprägt. Letztlich waren es eben doch Deutsche, die nach Deutschland zurückgekehrt sind.