© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/16 / 05. Februar 2016

Düstere Bilanz
Fünf Jahre Arabischer Frühling: Die Revolte gebar Leiden, warf Gräben auf und nährte Extreme, doch es gibt auch Gutes zu berichten
Marc Zoellner

Faida Hamdi fällt es schwer, über ihre Vergangenheit zu erzählen. „Ich fühle mich so verantwortlich für all das hier“, erklärt sie aufgelöst und unter Tränen in einem ihrer spärlichen Interviews, selbst fünf Jahre noch nach der eigentlichen Tat. „Manchmal wünschte ich, ich hätte es nie getan.“

Und eigentlich klingt ihre Anekdote auch viel zu lapidar, um überhaupt Eingang in die Annalen irgendeiner Geschichte finden zu können: Am Morgen des 17. Dezember 2010 geschah es, als sie den Gemüsewagen eines jungen Händlers aus dem zentraltunesischen Sidi Bouzid beschlagnahmt hatte. Der damals 26jährige Mohamed Bouazizi, rechtfertigt sie sich später vor Gericht, habe keine Lizenz zum Verkauf seiner Produkte besessen. Die zwanzig Jahre ältere Ordnungsbeamtin, geben Zeugen später zu Protokoll, habe ihm daraufhin ins Gesicht geschlagen, seine Waage konfisziert, ihn beleidigt und bedroht. Auch von Bestechungsgeldern soll die Rede gewesen sein. Daß ihre Ohrfeige Auslöser eines blutigen Weltgeschehens werden sollte, kann sie noch immer kaum fassen.

„Ich beschuldige mich oft und sage mir, daß das alles bloß meinetwegen passiert. Ich habe Geschichte geschrieben“, erzählt sie zum fünften Jahrestag ihrer Streitigkeit dem britischen Telegraph. „Überall herrschen nun Tod und Extremismus, und wunderschöne Seelen werden ermordet.“

Nach der Beschlagnahme seiner Waage und gedemütigt von jener Ohrfeige, zog der junge Gemüsehändler noch am gleichen Tag wutentbrannt vor den Sitz des Gouverneurs von Sidi Bouzid. Dort übergoß er sich aus Protest gegen seine Behandlung mit Benzin und zündete sich – höchstwahrscheinlich unbeabsichtigt – selbst an. Ein kleiner Funke aus einem Einwegfeuerzeug, welcher genügen sollte, nicht nur sein eigenes Land, sondern auch den gesamten nahöstlichen Kulturkreis und mit ihm das größere Weltgeschehen in Brand zu setzen.

Die Unruhen, die bei der Einlieferung des an schwersten Verbrennungen leidenden Mannes in eine Spezialklinik, schon die großen Städte des nordafrikanischen Landes erfaßt hatten und Zehntausende Menschen auf die Straße zogen, überraschten Pressebeobachter und Regierung gleichermaßen. Derart, daß sich der damalige tunesische Präsident Zine El Abidine Ben Ali genötigt sah, höchstpersönlich am Krankenbett des Protestlers zu erscheinen, um diesem seinen Beistand anzubieten.

Bis zu 400.000 Menschen verloren ihr Leben

Für Ben Ali selbst kam dieser Akt der Hingabe zu spät: In den Nachmittagsstunden des 14. Januar 2011, genau zehn Tage nach dem Dahinscheiden Bouazizis, mußte das beim Volk in Ungnade gefallene Staatsoberhaupt dem Druck der Straße weichen und überhastet mit einer Militärmaschine ins saudi-arabische Dschidda fliehen. In jene Stadt, die auch schon dem ugandischen Diktator Idi Amin nach dessen Sturz als Refugium diente.

Zur selben Zeit entfachte die Flamme der Rebellion bereits die Massen in zwanzig anderen arabischen Staaten. Bis nach China, Spanien und Schwarzafrika sollte sie noch vordringen, drei alteingesessene Alleinherrscher das Amt und bis heute rund drei- bis vierhunderttausend Menschen das Leben kosten. Doch nur in den wenigsten Fällen war die Arabellion, wie mehrere deutsche Medien die Unruhen später taufen sollten, auch von Erfolg geprägt. 

„Die Revolutionen des Arabischen Frühlings geschahen, weil die Menschen plötzlich verstanden hatten, daß sie die Quelle aller Macht sind“, erklärte Mohammed Mursi in einer Rede von 2013. Der heute 64 Jahre alte Ägypter weiß wohl am besten, wovon er spricht: Unter seiner Ägide probten die Moslembrüder, ein Verband konservativ-islamischer bis offen islamistischer Politaktivisten des Landes, seit dem 25. Januar 2011 den Aufstand gegen den damaligen Machthaber Hosni Mubarak. Rund 15.000 Menschen standen damals zum „Tag des Zorns“ auf dem später symbolträchtig gewordenen Tahrir-Platz, dem „Platz der Befreiung“ im Herzen Kairos, rund 30.000 Polizisten und Armeeangehörigen gegenüber. Bis zum 18. Februar sollte sich die Anzahl der Demonstranten mit etwa zwei Millionen Teilnehmern allein in der Hauptstadt Ägyptens mehr als verhundertfachen.

Über 850 Menschenleben forderten die damaligen Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften und der Opposition. Schließlich öffnete der erzwungene Rücktritt sowie die Verhaftung Mubaraks den Weg für die ersten freien Wahlen in der Geschichte des Nilstaats. Die Moslembrüder sowie die salafistische Al-Nour-Partei erzielten in dieser mit knapp 70 Prozent der Stimmanteile die absolute Mehrheit im Parlament, Mursi selbst wurde im Juni 2012 zum Staatspräsidenten gewählt.

Doch sein zunehmend als autoritär empfundener Regierungsstil, die willkürliche Entmachtung und Ernennung hochrangiger politischer Amtsträger, eine gefürchtete Verfassungsänderung hin zum autoritären Präsidialsystem sowie insbesondere seine intensiven Machtkämpfe mit dem mubaraktreuen Militärrat des Landes trieben schon ein Jahr später erneut Millionen Menschen auf die Straße. Die politischen Forderungen der frisch gegründeten Tamarod-Bewegung, deren Volksbegehren nach Neuwahlen über 22 Millionen Ägypter unterzeichnet hatten, wurden genährt von einer schweren, durch den zur Revolutionszeit erfolgten Einbruch der Touristenzahlen bedingten ökonomischen Krise. Abd al-Fattah as-Sisi, der Oberbefehlshaber der ägyptischen Armee, sah damals seine Stunde gekommen. Am 3. Juli 2013 putschte as-Sisi gegen die Regierung Mursis und ernannte seinen engen Vertrauten, den schon unter Mubarak als Verfassungsrichter dienenden Adli Mansur, zum Interimspräsidenten.

Proteste gegen die Machtübernahme as-Sisis ließ dieser mit tödlicher Präzision niederschlagen. Allein beim Kairoer Blutbad, der Erstürmung eines Lagers von Demonstranten durch das ägyptische Militär, wurden rund 1.000 dort versammelte Anhänger der Moslembrüder erschossen. Zehntausende fielen internen Verhaftungswellen zum Opfer, weit über tausend wurden in mehreren Massenprozessen zum Tode verurteilt, unter ihnen auch Mursi selbst.

Die Freudenfeiern und Paraden fielen zum fünften Jahrestag der Revolution gegen Mubarak diesen Januar dementsprechend aus. Zwar hatte die mittlerweile verbotene Moslembruderschaft zum Generalstreik gegen as-Sisis Regime aufgerufen. Doch offen zu protestieren traut sich in Ägypten kaum noch jemand. Lediglich hundert Anhänger der Regierung fanden sich an diesem 25. Januar auf dem Tahrir-Platz ein, um ihrem Präsidenten und der Armee zu huldigen.

Zweifelsohne hätte die Arabellion Ägypten noch schlimmer treffen können; so wie den Jemen, Syrien und den Irak oder auch das benachbarte Libyen. Nach dem Sturz Muammar al-Gaddafis im Herbst 2011 spaltete sich letzteres in zwei verfeindete Regierungen: die vom Westen anerkannte Gemäßigte in Tobruk sowie eine islamistisch dominierten in Tripolis. Das dazwischen aufkeimende Machtvakuum nutzte die radikalislamische Terrororganisation Islamischer Staat, um sich eine rund 250 Kilometer breite Dependance zu erobern. Über 3.000 ihrer Milizionäre sind derzeit bereits im ölreichen Wüstenstaat aktiv. Neben dem eigentlichen Kernland im syrisch-irakischen Grenzgebiet gilt Libyen als erfolgreichstes Unternehmen der Terroristen.

Ebenso erfolgreich wie unkontrolliert agiert mittlerweile al-Qaida im süd-arabischen Jemen. Auch hier zeigte sich die Moslembruderschaft federführend in der Absetzung des langjährigen Machthabers Ali Abdullah Saleh, welcher das bitterarme Land seit 1978 autokratisch regierte. Für ihre Organisation der Proteste gegen die Präsidentschaft Salehs erhielt die damals erst 32 Jahre zählende Journalistin Tawakkol Karman, die gleichzeitig im Führungskommittee der Moslembruderpartei al-Islah tätig war, im Oktober 2011 sogar den Friedensnobelpreis überreicht.

„Der Jemen ist gemeinhin als Land bekannt, in welchem rund 70 Millionen Schußwaffen zirkulieren“, blickt die Aktivistin im September 2014 im Interview mit dem japanischen Nachrichtenmagazin Nippon.com auf die Arabellion zurück. „Doch ohne auf diese Waffen zurückzugreifen, gelang es den Jemeniten, sich gegen die bewaffneten Kräfte des Regimes von Präsident Saleh zu erheben und eine friedliche Revolution durchzuführen.“

Doch der Frieden erwies sich im Nachhinein als brüchig: Noch im gleichen Monat des Interviews nahmen schiitische Huthi-Milizen, denen Verbindungen sowohl zu Saleh als auch zum Iran nachgesagt werden, die Hauptstadt Sanaa ein. Im März 2015 schlug sich Saudi-Arabien auf die Seite der nach Aden geflohenen Regierung – vorrangig um wie beim Einmarsch seiner Truppen im rebellierenden Bahrain im März 2011 seine Vormachtstellung im Nahen Osten insbesondere Teheran gegenüber zu konsolidieren. Der nachfolgende Krieg trieb zweieinhalb Millionen Jemeniten, umgerechnet etwa zehn Prozent der Einwohner des Landes, zur Flucht und kostete bislang bis zu 6.000 Menschen das Leben. Ganze Wohnviertel der historischen Altstadt Sanaas wurden durch saudische Bombardements komplett verwüstet.

In Tunesien kocht der Unmut weiter  

Der Arabische Frühling wirft Gräben auf und nährt Extreme. Das halb entvölkerte Syrien ist sicherlich das deutliche Anzeichen eines Scheiterns dieser zu Beginn noch positiv bewerteten Umwälzung im Kulturraum des südlichen und östlichen Mittelmeers. Daß es auf der anderen Seite auch Gutes zu berichten gibt, die Verfassungsänderungen und Regierungsumbildungen im Oman, in Kuwait, Jordanien und Marokko beispielsweise, wird über den Umstand des millionenfachen Leidens sowie der auch in Europa deutlich spürbaren Fluchtbewegungen aus den Bürgerkriegsgebieten oft vernachlässigt. Nicht überall ist der Arabische Frühling als Fehlschlag zu bewerten.

Welchen Ausgang die Arabellion hingegen für Tunesien nehmen wird, ist ungewiß. Seit dem 16. Januar sind erneut Unruhen in mehreren Städten des Landes ausgebrochen. Insbesondere in den Provinzen von Kasserine und Sidi Bouzid, dem Ausgangsort der Arabellion, gingen Zehntausende Jugendliche gegen die grassierende Arbeitslosigkeit auf die Straße. Wie schon vor fünf Jahren, war auch diesen Januar der mutmaßliche Freitod eines jungen Demonstranten Auslöser der Proteste.

Mohammed Bouazizis Familie wird von diesen Entwicklungen nur noch durch die Medien erfahren. Anfeindungen selbst aus der eigenen Nachbarschaft ob der tragischen Rolle ihres Sohnes im Arabischen Frühling ließen Mutter und Schwester nach Kanada emigrieren. Lediglich Faida Hamdi ist noch in Sidi Bouzid verblieben, arbeitet als Ordnungsbeamte der Stadt, so wie schon früher. „Mohamed und ich, wir sind beide Opfer“, erklärt sie reumütig zum Abschied dem Telegraph. „Er verlor sein Leben, und meins ist nicht mehr dasselbe.“ Und alles nur aufgrund einer unbedachten Ohrfeige, die später die Geschichte veränderte.





Regierungserklärung durch Außenminister Guido Westerwelle vor dem Deutschen Bundestag zum Umbruch in der arabischen Welt 

16. März 2011

„... Wir stehen in der arabischen Welt vor einem Neubeginn voller Chancen. Aber nicht nur die Völker der Region, sondern auch wir brauchen einen langen Atem. Dieser arabische Frühling ist eine historische Chance für Frieden und Wohlstand in der gesamten Region mit positiven Folgen weltweit. Deutschland und Europa stehen als Partner bereit, damit der demokratische Aufbruch in Nordafrika und anderen Teilen der arabischen Welt tatsächlich gelingen kann. ....

Was sich die Menschen in Tunesien wünschen, was sie sich erträumen, ist unseren Wünschen und unseren Träumen sehr nah. Die Hoffnung auf ein Leben in Freiheit, in Würde und Gerechtigkeit verbindet uns über das Mittelmeer und über alle Grenzen hinweg. Gleichzeitig erreichen uns die Bilder von Flüchtlingsbooten vor Lampedusa. Klar ist: Wir können nicht alle Menschen aus Nordafrika in Europa aufnehmen. Wir wollen vielmehr dabei helfen, daß die Menschen im eigenen Land eine gute Zukunft für sich sehen. Jetzt zu handeln, jetzt vor Ort zu helfen, ist die beste Politik, um Flüchtlingsströme einzudämmen ...“