© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/16 / 05. Februar 2016

Pankraz,
J. W. Goethe und das unendliche Staunen

Jetzt wollen sie uns sogar das Staunen verbieten beziehungsweise austreiben. In einem langen Essay in der einflußreichen Zeitschrift Information Philosophie knöpft sich der Bonner Philosoph Sebastian Knell das alte „Thaumazein“ (griechisches Wort für Staunen) vor, das für Platon und Aristoteles und im Anschluß daran für das Abendland überhaupt als die Mutter alles präzisen Nachdenkens galt. Dieses angeblich nur hochgedonnerte Thaumazein, darauf läuft es bei Knell hinaus, müsse endlich durch die schlichte „wissenschaftliche Neugier“ ersetzt werden.

Knell knüpft dabei an die bekannte Polemik des Horaz gegen das Thaumazein an. Es komme nicht darauf an, zu staunen, meinte der, sondern unsere erkenntnistheoretische Devise müsse lauten: „Sich durch nichts verblüffen lassen!“ Keine quantitative oder qualitative Exorbitanz soll uns demnach aus unserer kühlen Reserve herauslocken. Wolkenkratzer mit über hundert Stockwerken, phantastische Verkehrssysteme, Weltraumbahnhöfe, sportliche Höchstleistungen oder politische Dummheiten – nichts davon sei ein Erstaunen wert, alles sei nun mal so, wie es sei.

Tatsächlich haben wir uns ja längst derart daran gewöhnt, von den Medien regelmäßig mit Superlativen gefüttert zu werden, daß wir höchstens noch „staunen“, wenn sie einmal ausbleiben. Mit dem Thaumazein der Alten hat das freilich nichts zu tun. „Der Mensch beginnt mit dem Staunen darüber, daß die Dinge so sind, wie sie sind“, schrieb Aristoteles, und unsere neuzeitlichen Klassiker, von Luther bis Thomas Mann, haben das alle mit voller Zustimmung registriert.


Vor allem für Goethe gilt das. Für ihn war die bloße Neugier, „überall seine Nase hineinstecken zu wollen“, eine verächtliche Ungezogenheit. Über das Staunen aber sagte er (im Gespräch mit Eckermann): „Das Höchste, wozu der Mensch gelangen kann, ist das Erstaunen.“ Und er machte dabei eine wichtige Unterscheidung, erstens das Staunen über das Ungewöhnliche und zweitens das Staunen über das Gewöhnliche und Alltägliche.

Merkwürdigerweise ignorieren die meisten heutigen Psychologen diesen Unterschied. Für sie, beispielsweise für Wilhelm Stapel oder Wilhelm Josef Revers, ist allein das Staunen vor dem Ungewohnten wirkliches Staunen. „Staunen erregen“, so Revers, „kann nur das, was wir nicht kennen, das uns unvertraut ist, das Ungewohnte und Ungewöhnliche.“ Goethe (und auch schon Aristoteles) sahen es anders. „Wenn ich darüber erstaune, daß die Dinge so sind, wie sie sind, dann staune ich ja gerade über das Gewohnte und Alltägliche.“ 

Es mag nun vorkommen, daß die Kaltblütigkeit, mit der der moderne Mensch superlativische Ausnahmeerscheinungen zur Kenntnis nimmt, mit einer Empfindlichkeit für die tagtäglich anfallenden Klein-Ereignisse der Lebenswelt einhergeht, daß mithin einer, der über Mondraketen nicht mehr staunen kann, andererseits darüber staunt, daß das Gras um ihn herum blüht und die Schmetterlinge fliegen. Aber das ist im goethisch-aristotelischen Sinne zuwenig. Für Goethe ist just das Staunen über das Gewohnte und Alltägliche die eigentlich schöpferische, Fragen provozierende und fruchtbare Art des Staunens.

Das Staunen vor dem Ungewohnten erlischt, sobald man sich daran gewöhnt und es in seine eigene Lebenswelt eingeordnet hat. Das Staunen über die Lebenswelt selbst jedoch läßt sich nicht einordnen. Hat man erst einmal damit angefangen, so schreitet es von Frage zu Frage fort, und unter jeder Schicht, die man staunend-fragend freilegt, breitet sich eine neue aus, die ebenfalls angestaunt und befragt werden will.

Staunen dieser schöpferischfruchtbaren Art kann ohne weiteres definiert werden als Verwandlung von Gewohntem in Ungewohntes. Es steht am Anfang eines jeden Wissenschaftsprozesses, es begleitet ihn und treibt ihn voran, wenn auch gesagt werden muß, daß es sich im Fortgang der wissenschaftlichen Untersuchung oftmals eigentümlich abschleift. Und am Ende steht dann die sogenannte Betriebsblindheit.


Der erfolgreiche Forscher kann überhaupt nicht mehr darüber staunen, daß die von ihm beschworenen Kräfte exakt im Sinne seiner Versuchsanordnung reagieren. Pankraz vermutet, daß genau in solcher (verständlichen) Betriebsblindheit der Kern unserer Misere liegt. Die Phänomene, ob groß oder klein, gewohnt oder ungewohnt, verblassen hinter dem Raster unserer arbeitsweltlichen Rationalität zur simplen, allzu simplen Hausaufgabe, die dank der Mittel aus der mathematisch-physikalischen Kiste allemal „lösbar“ ist. „Wir schaffen das!“

Dagegen also das goethesche Staunen vor dem Gewohnten. Es macht klar: Nicht so sehr die alltäglich gewordenen Superlative, sondern in erster Linie unsere ganz und gar technisch-wissenschaftlich geprägte Arbeits- (und Freizeit-)welt lassen uns das Staunen verlernen. Goethe seinerseits hat sich nicht darauf eingelassen und erinnert daran, was wahres Staunen vermag. Es verwandelt nicht nur Gewohntes in Ungewohntes, sondern auch scheinbar Banales in Erhabenes, es rückt die Welt aus der Perspektive des Selbstverständlichen in die Aura des Einzigartigen und der Gnade.

Das, was – aus unserer menschlichen Perspektive gesehen – immer da war und uns eben einfach „gegeben“ ist, bezieht für Goethe gerade daraus seine Dignität und Unantastbarkeit. Wie sagte der große Dichter und Naturforscher zu Eckermann? „Das Höchste, wozu der Mensch gelangen kann, ist das Erstaunen.“

Aber das Zitat geht weiter: „Wenn ihn“ (den Menschen) „das Urphänomen in Erstaunen setzt“, fährt er fort, „so sei er zufrieden. Denn ein Höheres kann es ihm nicht gewähren; und ein Weiteres soll er nicht dahinter suchen; hier ist die Grenze.“

In jedem, auch noch dem geringsten Staunen waltet eine Grenzerfahrung, die nicht mehr überschritten werden kann. Deshalb ist es gut, das Staunen nicht zu verlernen. Das Staunen steht nicht nur am Anfang jedes Erkennens, sondern auch an seinem Ende.