© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/16 / 05. Februar 2016

Der Wahnsinn hat Methode
Asylkrise: Deutschland ist in Europa isoliert, seine Funktionseliten leiden an Realitätsverlust
Thorsten Hinz

Die Merkel-Versteher hatten den Entschluß der Kanzlerin, die Grenzen für die „chaotische Zuwanderung“ (Sigmar Gabriel) zu öffnen, zunächst zum politischen Geniestreich erklärt: Deutschland, als ökonomische und fiskalische Vormacht in Europa mehr gefürchtet als geschätzt, erweise sich auch als humanitäre Vormacht und würde zum „einflußreichsten Interpreten der europäischen Werte“ (Herfried Münkler). Ihr selbstloser Humanismus, lautete die Annahme, erzeuge einen moralischen Überwältigungeffekt, dem niemand sich entziehen könne und der die Partnerländer zwinge, Deutschland nachzueifern. Die Asylbewerber würden erträglich über Europa verteilt, die leidige deutsche Frage würde sich im europäischen Kontext verflüchtigen, und ein geeinter und gestärkter Kontinent träte als Großmacht in die internationale Politik ein.

Nichts davon ist Wirklichkeit geworden. Statt Bewunderung zieht die Bundesrepublik den Vorwurf des „moralischen Imperialismus“ (Viktor Orbán) auf sich, sie ist isoliert und hat sich als völlig unbegabt zur Wegweisung und Führung erwiesen. Die „mächtigste Frau der Welt“ ist im Kreis der europäischen Amtskollegen und gegenüber der Türkei zur Bittstellerin geworden. Die EU kollabiert, der Einfluß Europas in der Welt nimmt ab. Während Merkel mit der Unbeirrbarkeit eines Golems voranschreitet, wird ihre und die Zurechnungsfähigkeit der politischen Klasse – Stichwort „Hippie-Republik“ – international in Zweifel gezogen. Und Herfried Münkler, der eloquenteste und klügste der Merkel-Interpreten, ist auffallend schweigsam geworden.

Merkel hat ein globales Problem nationalisiert und damit die Hypermoral – die Ausdehnung des Staatsauftrags vom Staatsvolk auf die Menschheit – zur Regierungsmaxime erhoben. Die Entscheidung mag einsam gefallen sein, aber sie war nur möglich, weil sie der politischen Mentalität der Bundesrepublik entspricht und auf die Zustimmung der Medien, Verbände, Kirchen, der sogenannten Zivilgesellschaft rechnen konnte.

Bestimmend für diese Mentalität ist eine historisch begründete Angst vor der politischen Überforderung. Das Fiasko des Kaiserreichs und die nationalsozialistische Hybris haben zu der Überzeugung geführt, daß eine eigenständige deutsche Politik unmöglich ist. Margaret Thatcher schrieb in ihren Memoiren, die Deutschen hätten eine Scheu davor, sich selbst zu regieren, weshalb sie ein europäisches System zu schaffen versuchten, „in dem sich keine Nation mehr selbst regiert“. Ein imaginäres Europa- und Weltethos bildet die ideologische Basis dafür.

Daher stehen die Funktionseliten fassungslos vor der Tatsache, daß die Konsequenzen der deutschen Selbstnegation von den Nachbarn, die keineswegs im geschichtlichen Orkus verschwinden wollen, als Zumutung empfunden werden. Die aktuelle Lage erinnert entfernt an die Isolation und Einkreisung von 1914. Nur weil Europa machtpolitisch und demographisch ein ausgebrannter Krater ist, sind die Folgen vergleichsweise harmlos. Die Funktionseliten, wären sie lernfähig, würden nun einsehen, daß der Glaube „tölpelhaft“ war, durch „den Verzicht auf jede politische Entscheidung einen rein moralischen oder rein ökonomischen Zustand der Menschheit herbeizuführen“. 

Verschiedentlich – so von Patrick Bahners in der FAZ – wurde die Grenzöffnung als ein Akt staatlicher Souveränität interpretiert. Die meßbaren Folgen reichen aus, um die paradoxe These zu widerlegen. Vielmehr erfährt das Staatsvolk seine Nichtsouveränität jetzt ganz unmittelbar im Alltag bis hin – siehe Köln – als die Sorge um die körperliche Unversehrheit. Merkels Entscheid war ein Akt des politischen und nationalen Nihilismus und signalisierte, „daß ein Volk nicht mehr die Kraft oder den Willen hat, sich in der Sphäre des Politischen zu halten“ (Carl Schmitt).

Für den deutschen Nationalstaat war die Lage von Anfang an äußerst unsicher gewesen. Das 1871 gegründete Deutsche Reich war zwar das mächtigste Land auf dem Kontinent, aber keine Weltmacht, die sich seiner Existenz in riskanter Mittellage dauerhaft sicher sein konnte. Schon nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg setzte die Moralisierung des Politischen ein, als linke Intellektuelle vor der historischen, geo- und machtpolitischen Gemengelage kapitulierten und die Problematik auf die Ebene der Moral verlagerten. Sie übernahmen die Entente-Rhetorik, bestanden auf der Kriegsschuld und dem zivilisatorischen Rückstand Deutschlands und priesen die westlichen Kriegsgegner als Bannerträger von Fortschritt, Demokratie und Universalismus. Max Weber war außer sich vor Zorn über diese „Literaten“, die nichts als „schwache, dem Antlitz der Wirklichkeit nicht gewachsene Naturen“ seien. Ein Sieg oder eine Niederlage im Krieg bewiesen „schlechterdings nichts“ für oder gegen das Recht.

Hitler wollte die Ambivalenzen, die im Spannungsfeld zwischen Macht und Ohnmacht, Recht und Unrecht entstehen, schlagartig beseitigen, indem er Moral und Recht kurzerhand mit dem Recht des Stärkeren identifizierte und alle humanitären Universalien suspendierte, um im Überlebenskampf auf jeden Fall der Stärkere zu sein. Mit dem Ergebnis, daß 1945 die militärische Niederlage mit einer beispiellosen moralischen Kompromittierung des deutschen Nationalstaats einherging, was „die Individuen auf ihre Privatinteressen und deren kurzfristige Horizonte“ – auf die egalitäre und genußorientierte Familienmoral – „zurückfallen“ ließ (Arnold Gehlen). Diese wurde im Zuge der 68er Kulturrevolution auf das Politische projiziert mit dem Ergebnis, daß die Gesinnungs- die Verantwortungsethik fast vollständig ersetzt hat und jetzt eine selbstmörderische Wirkung entfaltet.

Der Weg vom moralischen Zusammenbruch 1945 zur selbstzerstörerischen Hypermoral ist leicht erklärbar, doch er war nicht zwangsläufig. Der Appell an eine universelle Moral kann auch das klug eingesetzte politische Mittel der Besiegten und Schwachen sein, um ihren Lebensinteressen Geltung zu verschaffen. Als 1948 Berlins Regierender Bürgermeister Ernst Reuter den Westen – vor allem die USA – um Hilfe für die bedrohte Halbstadt bat, berief er sich vernünftigerweise nicht auf das Selbstbestimmungsrecht, sondern auf Berlin als „Bollwerk“ von Freiheit und Demokratie, also jener Werte, als deren Sachwalter die USA sich beim Eintritt in den Zweiten Weltkrieg geriert hatten.

Auch Konrad Adenauer gewann außenpolitischen Handlungsspielraum, indem er seine Politik dezidiert mit europäisch-westlich-abendländischen Vorzeichen versah. Um Heuchelei handelte es sich insofern, als die beschworene Identität der deutschen mit allgemein-westlichen Interessen dem Zweck diente, auch solche Interessen voranzutreiben, die nicht mit denen der anderen identisch waren.

Solche Heuchelei ist nichts per se Negatives, sondern ein kommunikatives Schmiermittel in den zwischenstaatlichen Beziehungen. Die Verhandlungspartner wissen natürlich, daß ihr Gegenüber eigennützige Hintergedanken hegt. Indem sie sich zunächst auf ein höheres Allgemeines berufen, signalisieren sie, daß sie um Gemeinsamkeit und Verständigung bemüht sind. Wegen der totalen Niederlage und der NS-Hypothek mußte die Konzessionsbereitschaft der Bundesrepublik freilich überproportional hoch ausfallen.

Sogar die Hypermoral ist zunächst ein unbewußter Versuch der Interessenswahrung, der Versuch nämlich, über den Umweg der Missionierung von den anderen Schonung zu erlangen. Das bleibt – siehe Carl Schmitt – ein vergebliches Unterfangen. Mit der Totalisierung der Hypermoral ist der Punkt erreicht, ab dem die Heuchelei den Heuchler in Gefangenschaft nimmt: Er kann nicht mehr zwischen seinen authentischen und den geheuchelten Interessen und Positionen unterscheiden und glaubt, in der Heuchelei mit sich identisch zu sein. Das trifft mehrheitlich auf die bundesdeutschen Funktionseliten zu. Ihr Realitäts- und Selbstverlust kann auf kollektive Umerziehung, auf manipulative Konditionierung oder auf die Identifikation mit transnationalen Netzwerken zurückgehen, denen sie die Karriere verdanken.

Die europäischen Regierungen, die sich gegen Merkels Kurs wehren, sehen deutlich, daß der global orientierte Humanitarismus der Bundesrepublik sich vom deutschen und europäischen Standpunkt irrational und nihilistisch ausnimmt. Der Nihilismus ist das Gegenteil von Politik. Da die Politik genausowenig wie die Natur ein Vakuum zuläßt, liegt die Frage nahe, ob der praktizierte Wahnsinn zu einer politischen Strategie gehört, die auf einer übereuropäischen Metaebene entworfen und in Gang gesetzt wurde und der bundesdeutsche Golem nicht nur ein verrückt gewordener Selbstläufer, sondern auch das Werkzeug transnationaler Politikplaner ist.

Das verdoppelt und verdreifacht die Kompliziertheit der Lage.





Sloterdijk: Merkel wird zurückrudern 

Deutliche Kritik an der Flüchtlingspolitik der Kanzlerin übt der Philosoph Peter Sloterdijk. „Die deutsche Regierung hat sich in einem Akt des Souveränitätsverzichts der Überrollung preisgegeben. Diese Abdankung geht Tag und Nacht weiter“, sagte Sloterdijk in einem Interview mit dem Magazin Cicero (Februar-Ausgabe). Die postmodernisierte Gesellschaft existiere in „einem surrealen Modus von Grenzvergessenheit. (…) Wo früher starkwandige Grenzen waren, sind schmale Membrane entstanden. Die werden jetzt massiv überlaufen.“ Die Politik der offenen Grenzen könne final nicht gutgehen. „Merkel wird zurückrudern“, glaubt der Philosoph.