© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/16 / 12. Februar 2016

Sie trägt der Heimat Gesicht
Mutter der ostpreußischen Kulturgemeinschaft: Die aus Königsberg stammende Ruth Geede publiziert seit mehr als achtzig Jahren / Am Samstag kann sie ihren hundertsten Geburtstag feiern
Bernhard Knapstein

Jede Heimatregion hat ihre Volksdichter und Erzähler, die das Wesen der Menschen einer gewachsenen Volksgruppe in ihrer Sprache und ihrem ganzen Sein erfassen, beschreiben und letztlich selbst verkörpern. Solche Kulturträger sind Quelle der Inspiration und bestätigen die Menschen in ihren Wurzeln und ihrem positiven Heimatgefühl. Für die Ostpreußen ist diese Identifikationsfigur zweifellos Ruth Geede. 

Die in Hamburg-Niendorf lebende Journalistin und Publizistin gilt zehntausenden Heimatvertriebenen als Mutter der ostpreußischen Kulturgemeinschaft und Familie. Eine hohe Ehre, der Ruth Geede allerdings auch wie keine zweite in der Pflege der deutschen Heimatdichtung gerecht wird. 

Sie war das fünfte Kind des Quästors der Königsberger Albertina, Emil Geede, und wuchs in behüteten Verhältnissen auf. Die Schule war ihr verhaßt, doch die Bücher ihres zwölf Jahre älteren Bruders verschlang sie geradezu. 

Ein Aufsatz über „Kleine Liebe zu Amerika“ und die Begegnung mit dem Autor Manfred Hausmann gaben ihr einen ersten Impuls für ihren künftigen Beruf.  Ihr erstes Gedicht in der Königsberger Allgemeinen veröffentlichte die damals 16jährige Geede 1932. Es folgten weitere Beiträge, auch beim Reichssender Königsberg, wo sie sich für die Pflege der ostpreußischen Mundart einsetzte. Als sie mit gerade einmal 19 Jahren dem Deutschen Schriftstellerverband beitrat, war sie das jüngste Mitglied aller Zeiten.

Flucht aus Königsberg in letzter Sekunde

Die preisgekrönte Schriftstellerin und Dichterin Agnes Miegel, deren Andenken heute wegen fehlender Distanz zum NS-Regime bundesweit ausradiert wird, bestärkte die junge Geede, ihr schriftstellerisches Wirken auszubauen. Eine wohlwollende Anregung, der Geede mit großem Fleiß folgte. Immerhin kann sie heute über fünfzig, zum Teil mundartliche Bücher wie „De Lävenstruuß“ (1935), „Rote Korallen“ (1977) oder „Das Bernsteinkettchen“ (2007) vorweisen, in deren mal heiteren, mal besinnlichen Geschichten sich das Leben und die Lebensart in Ostpreußen widerspiegeln. Dazu kommen einige Hörbücher und Bühnenstücke.

Daß sie ein solches – bis heute nicht abgeschlossenes – Lebenswerk errichten würde, war keineswegs selbstverständlich. Denn wer im Kriegswinter 1916 als untergewichtiges Frühchen von gerade einmal sechseinhalb Monaten zur Welt kam, der war nicht unbedingt dafür auserkoren, zu überleben und das kulturelle Narrativ einer ganzen Volksgruppe niederzuschreiben. „Ach Chott, a Kopf wie a Saatkartoffelchen“, ist der erste überlieferte Kommentar im tiefsten ostpreußischen Dialekt eines lieben Anverwandten, angesichts der nur auf der Handfläche des Vaters liegenden kleinen Ruth. Doch die Saat ging auf. 

Ihre formelle Redakteurs-Ausbildung konnte Geede allerdings erst 1949, nach erfolgreicher Flucht in letzter Sekunde aus der zur Festung erklärten Pregelstadt Königsberg und weiteren Hungerjahren in Norddeutschland, mit einem Volontariat bei der Landeszeitung Lüneburg absolvieren. Später baute sie die Hamburg-Redaktion der Landeszeitung auf, für die sie bis 1995 arbeitete. 

Parallel dazu schrieb Ruth Geede ab den fünfziger Jahren für das Ostpreußenblatt, heute Preußische Allgemeine Zeitung. Seit 1979 verantwortet sie dort die beliebte Rubrik „Die ostpreußische Familie“ und beginnt ihre Zeilen stets mit einem herzlichen „Leeve Landslied“. Ihre Rubrik ist eine Art Schwarzes Brett für Familienforschung, Dönkes aus der Heimat und Fragen zur ostpreußischen Kultur – eine Instanz sui generis, ohne die der regelmäßige Austausch einer nach Flucht, Deportation und Vertreibung zersiedelten Kulturgemeinschaft kaum möglich wäre.

Woche für Woche liefert sie pünktlich ihre Texte

Woche für Woche liefert Geede ihre Texte, die ganze Seiten füllen, pünktlich wie ein Uhrwerk. Bemißt man es nach dem Leserbriefaufkommen, so weist sie in der Redaktion mit die höchste Leserbindung auf, und alle Ostpreußen und Ahnenforscher gieren förmlich nach ihren Zeilen. Geede beantwortet unzählige Anfragen durchaus humorvoll, aber auch mit dem Fluidum einer unerschöpflichen Enzyklopädie. Doch dabei vergißt man leicht: Ruth Geede vollendet am 13. Februar das hundertste Lebensjahr.

Mit 80 Lenzen hat man bereits ein gesegnetes Alter erreicht, mit mehr als achtzig Berufsjahren indessen gehört man freilich in eine Sonderkategorie, für die erst noch ein Begriff entwickelt werden muß. Selbst mit über 85 Jahren besuchte Ruth Geede damals noch in der Hamburger Parkallee die wöchentliche Redaktionssitzung und bereicherte mit ihrem Esprit die – für Vertriebenenverhältnisse – an Lebensjahren eher junge Redaktion. Auch wenn Geede das Medium Internet beherrscht, ihr eigener Rechner bleibt inzwischen offline, und bei den Recherchen hilft seit einigen Jahren die Schwiegertochter.

Ungetrübtes Gedächtnis, feinsinniger Humor

Für den Autor dieser Zeilen war das lange Schaffen Geedes vor wenigen Jahren Grund genug, eine Recherche in Europa, Nord- und Südamerika, Asien, Afrika und Australien vorzunehmen, um vergleichbare Lebensleistungen unter Journalisten und Publizisten herauszufiltern. Und natürlich rückten mit dem 2014 verstorbenen Peter Scholl-Latour, der auch für die JF geschrieben hat, oder der Hamburger Bildjournalistin Erika Krauß (1917–2013) auch deutsche Kollegen ins obere Zehntel der Journalisten nach „Dienstalter“. Nach drei Monaten an Korrespondenzen, Telefonaten und Internetrecherchen stand allerdings fest: weltweit fand sich nur noch ein aktiver Journalist, der immerhin 1934, also zwei Jahre nach Geede, die journalistische Feder ergriffen hatte. Doch auch jener US-Sportreporter des Ohio Record Courier, Persh C. Rohrer, ist inzwischen verstorben. Ruth Geedes mittlerweile 84jähriges Wirken hat eine fast altbiblische Dimension und ist für die deutsche Kulturlandschaft selbst ohne solch zu vernachlässigende Rekorde unersetzlich. Bereits 1985 erhielt sie von dem damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker das Bundesverdienstkreuz verliehen. 1991 bekam sie den Kulturpreis der Landsmannschaft Ostpreußen und 2000 den Preußenschild, die höchste Auszeichnung, die die Landsmannschaft Ostpreußen zu vergeben hat.

Die Heimat der Ostpreußen ist nicht mehr. Die Zersiedelung und Assimilierung der Heimatvertriebenen in Restdeutschland hat nicht dazu beigetragen, daß die ostdeutsche Provinz als lebendige Kulturgemeinschaft langfristig erhalten werden kann. Doch daß der historische deutsche Osten auch siebzig Jahre nach Kriegsende noch lebhaft vorstellbar und lebendig geblieben ist und selbst Familienmitglieder nach mehr als einem halben Jahrhundert wieder zueinanderfinden, ist in dem Umfang der letzten 35 Jahre ohne Ruth Geede schlichtweg nicht vorstellbar.

Mit ihrem scheinbar grenzenlosen und auch im hohen Alter ungetrübten Gedächtnis, ihrem feinsinnigen Humor und ihrer kommunikativen Art, die in ihrer Rubrik „Die ostpreußische Familie“ ganz zum Tragen kommt, trifft sie den Nerv ihrer Leserschaft. Ruth Geede erfüllt die Sehnsucht nach einem ständigen Austausch über Ostpreußen, über Familie und Erzählungen, bezogen auf eine Heimat, die so nicht mehr existiert und doch mit Geedes Zeilen jede Woche neu auflebt. Wer Ostpreußen einmal selbst besucht und erlebt hat und eine von Ruth Geedes Volkserzählungen zur Hand nimmt, dem offenbart sich das Land der dunklen Wälder und das Leben der Menschen an Haff und Moor.

Geede ist nicht nur Ostpreußin, sie verkörpert es geradezu – auf sie trifft wahrlich der Satz des Königsberger Lyrikers Walter Scheffler zu: „Ich trag meiner Heimat Gesicht.“