© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/16 / 12. Februar 2016

Längst integriert
vice.com: Die Internetseite hat ihren Zenit überschritten und fokussiert sich auf Drogen-Themen
Markus Brandstetter

Jetzt stellen Sie sich mal vor: Sie gehen in den Görlitzer Park in Berlin, um da Ihren Drogendealer zu besuchen und bei ihm Nachschub für die nächsten paar Tage einzukaufen. Da sagt der Ihnen, daß er seit gestern keine 500-Euro-Scheine mehr nimmt, weil die Bundesregierung die a) bald verbietet und b) die meisten davon sowieso gefälscht sind. Was tun Sie jetzt – ausgedörrt, hungrig und durstig nach Cannabis, Kokain und Crystal Meth, wie Sie sind? Genau: Sie schauen auf den Internetseiten von Vice Deutschland nach und lassen sich dort von kompetenten Journalisten erklären, was man in so einem absoluten Notfall tut. Antwort in diesem Fall: mit 20-Euro-Scheinen bezahlen, denn die werden nie gefälscht.

Anderer Fall: Sie wollen sich zu Hause selber tätowieren, um sich ein wenig Knast-Atmosphäre zu verschaffen, möchten aber nicht wirklich einsitzen. Wie geht denn das jetzt? Auch hier wissen die Spezialisten von Vice Deutschland Rat: Sie kaufen sich die Personal Tattoo Machine des tschechischen Erfinders Jakub Pollág, setzen sich an ihren Küchentisch, schütten entweder 12 Jahre alten Glenmore-Whiskey oder Aldi-Wodka („geht auch“) auf die Stelle, die sie verschönern wollen, beißen in Ihren Ledergürtel und los geht’s. Wenn Sie die ersten netten Worte („What the Fuck“) zum angenehmen Summen der tschechischen Wundermaschine in Ihren Unterarm fräsen, empfinden Sie bereits unmittelbar Knast-Atmosphäre am heimischen Herd – ohne wirklich im Gefängnis sein zu müssen.

Noch ein Beispiel: Auch Sie haben im Internet bereits diese ominösen Bordell-Freikarten für Flüchtlinge gesehen, auf denen beispielsweise ein „Sozialamt des Freistaates Bayern“ gegen Vorlage eines gelben Bons, der aussieht wie früher die Kinokarten, dem Inhaber einen „einmaligen kostenlosen Bordellbesuch“ ermöglicht. Und vermutlich haben Sie sich darüber ganz furchtbar aufgeregt, weil der Staat den Flüchtlingen hier schon wieder Leistungen – und auch noch kostenlos – gewährt, die man Deutschen mit deutschen Wurzeln ja nie gewähren würde. 

Auch hier haben die Vice-Reporter sofort recherchiert, damit in der jetzigen, ohnehin schon sehr angespannten Situation nicht ein Funken das Pulverfaß zum Explodieren bringt und herausgefunden, was dahintersteckt: Scherzartikel. Es handelt sich einfach um Scherzartikel, die Kunden da kaufen können, wo sie sich sonst mit Pappnasen, Clownshüten und Luftschlangen eindecken.

Wer braucht Plattenspieler aus Legosteinen?

Wer steckt denn nun hinter all diesen Erleuchtungen? Welche hochkarätige Truppe weiß, wie man aus Legosteinen einen Plattenspieler baut, in einer Minute eine ganze U-Bahn mit Graffiti zubombt, in Afghanistan einen Nachtclub betreibt und als Rentnerin mit 79 Jahren zum Star der internationalen Gamer-Szene aufsteigt? Hinter diesem geballten Wissen steckt zuerst einmal das amerikanische Lifestyle-Magazin Vice. Das ist eine 1994 – zuerst in Montreal, Kanada – gegründete Szene- und Stadt-Zeitung, die bald nach New York gezogen und da zum ein bißchen verruchten, anarchistisch angehauchten Szene-Magazin für alle und jeden mutiert ist. Seit 1996 ist das Magazin hauptsächlich im Internet zu finden, und seit 2005 gibt es auch einen deutschen Ableger. Für den arbeiten angeblich 140 Redakteure, und angeblich graben die andauernd ganz neue, ganz eigene („proprietäre“), ganz wilde Storys aus, die sonst keiner bringt. 

Schaut der Leser allerdings ein bißchen näher hin, dann stellt er schnell fest, daß die Hälfte der Artikel mit irgendeiner Übersetzungs-Software, die weder Englisch noch Deutsch kann, aus den kanadischen und amerikanischen Vice-Seiten ins Deutsche geschmuggelt wurde, wo die schräg bebilderten Reportagen jetzt mit unterirdischer Grammatik, allenfalls halb entgleisten Metaphern und nie so wirklich geilen Themen („Meine Oma war Prostituierte“ ) begeistern sollen. Politisch ist die Redaktion irgendwie links, also ungefähr so, wie die Süddeutsche Zeitung, die Zeit oder der Spiegel links sind, allerdings mit dem Unterschied, daß die Vice-Konsumenten grundsätzlich mit du angeredet werden und man ihnen unterstellt, daß sie den Kapitalismus ganz wirklich hassen, Flüchtlinge total lieben und nach Drogen absolut süchtig sind. 

Systemkritik im                Unterhaltungsstil

Da aber der Kapitalismus trotz aller Vice-Artikel einfach nicht weggeht und die Flüchtlinge offenbar auch nicht jedem Vice-Konsumenten hundertprozentig geheuer sind, hat man den Schwerpunkt der Berichterstattung inzwischen auf Drogen gelegt. Wenn die Welt um einen herum schon so furchtbar böse ist – kann man sie dann nicht einfach vergessen, indem man zum Beispiel ganz viel von einer neuen Droge einschmeißt, die „10.000mal stärker ist als Morphium“?

Einer wie Adorno hätte gewußt, daß diese ganze Pseudokritik am System, die bei Vice noch nicht einmal witzig rüberkommt, in Wirklichkeit vom System längst antizipiert und damit integriert ist. Kapitalismus und Nationalstaaten werden trotz aller Vice-Bemühungen so schnell nicht untergehen. Es bleiben die Drogen.