© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/16 / 12. Februar 2016

Die Nation und ihre Feinde
Grenzenloses Verhängnis
Peter Kuntze

Nach drei Rhein-Reisen veröffentlicht Victor Hugo 1842 sein Buch „Le Rhin“. Im Vorwort schreibt er: Deutschland sei eines der Länder, die er liebe, und eine der Nationen, die er bewundere. Er habe fast das Gefühl eines Sohnes für dieses edle und heilige Vaterland aller Denker. Wäre er nicht Franzose, wolle er Deutscher sein.

Daß am Ende dieses Jahrhunderts die von Hugo so enthusiastisch gepriesenen Deutschen noch der Souverän ihres 1871 gegründeten Nationalstaates sein werden, ist indes wenig wahrscheinlich. Die eigene Regierung hat durch rechts­- widrige Außerkraftsetzung des Dublin­Verfahrens, des Schengen-Abkommens, der EU-Asylregeln sowie der deutschen Einreise- und Aufenthaltsgesetze einen zur Völkerwanderung anschwellenden Zustrom mehrheitlich illegaler Migranten ausgelöst, der Deutschland grundlegend verändern wird. 

Nicht nur sollen im Zeichen von „Flexibilität“ und „Improvisation“ Bauvorschriften gelockert und Bildungsstandards gesenkt werden, um die mehr als eine Million Asylbewerber und Wirtschaftsflüchtlinge unterbringen und ihre rund 300.000 Kinder schulisch fördern zu können, die Umgestaltung zielt vielmehr ins Grundsätzliche: Die Deutschen, so Bundespräsident Joachim Gauck in einem Interview, müßten sich vom Bild einer Nation lösen, die „sehr homogen ist, in der fast alle Menschen Deutsch als Muttersprache haben, überwiegend christlich sind und hellhäutig“ (General-Anzeiger, 29. August 2015).

Niemand, weder das Staatsoberhaupt noch die Regierung, hat das Mandat, im Sinne der Globalisierungspropaganda eine so gravierende Veränderung des nationalen Selbstverständnisses in Gang zu setzen. Schließlich wird man davon ausgehen können, daß die Mehrheit der Deutschen ein derartiges Unterfangen entschieden ablehnt, weil sie nicht in einer multiethnischen und multikulturellen Mischbevölkerung aufgehen will – auch nicht will, daß sich ihr Staat eines Tages in einer europäischen Union auflöst. In seiner tausendjährigen Geschichte hat sich Deutschland zwar oft verändert, doch stets konnten die Bürger die Gewißheit haben, daß sie und die jeweils Regierenden darüber nicht die Kontrolle verloren, sondern Herr im eigenen Haus blieben. Das ist jetzt anders, denn das von Gauck angedeutete Projekt verfechten mittlerweile alle im Bundestag vertretenen Parteien, unterstützt von den meisten Medien.

Während sie Ausländern prophylaktisch Generalabsolution erteilt, stellt die polit-mediale Klasse Einwanderungskritiker sofort unter den Generalverdacht der Fremdenfeindlichkeit und des Rassismus und beschimpft sie im geifernden Ton eines Thersites als „empathieloses Pack“ und „Schande für Deutschland“. Wer gar Begriffe wie Volk oder nationale Identität in die Debatte wirft, wird als „völkisch“ gebrandmarkt und damit aus dem Diskurs verbannt – wohl wissend, daß jene an sich harmlose Vokabel mit der unsäglichen Rassenideologie der Nationalsozialisten assoziiert wird.

Vornehmlich in linksliberalen Feuilletons wird einer universalen Weltgesellschaft als dem säkularen Erlösungsprojekt der „Postmoderne“ seit Jahren zugearbeitet. Nicht selten werden dabei die Grenzen

der Absurdität

überschritten. 

In einem Punkt stimmen die sich als geborene Weltbürger aufspielenden Volkserzieher und die von ihnen offensichtlich als Hinterwäldler eingestuften Belehrten überein: Deutschland befindet sich in einem noch nie dagewesenen Wandlungsprozeß. Die Frage aber, was für ein Land es werden soll, bleibt offiziell ohne Antwort. 

Während Linkspartei und Grüne, schon immer antinational eingestellt, keinen Hehl daraus machen, daß es konsequent und unaufhaltsam in die vom Bundespräsidenten aufgezeigte Richtung gehen soll, hüllen sich die regierenden Christ-­ und Sozialdemokraten vor ihrem Wählervolk in beredtes Schweigen. Beredt – denn ihr politisches Handeln läuft darauf hinaus, daß Edmund Stoibers 1988 noch skandalisiertes Wort von der „durchmischten und durchraßten Gesellschaft“ unter dem Etikett Einwanderungsland allmählich Gestalt annimmt.

Vornehmlich in linksliberalen Feuilletons wird dem Multikulturalismus und einer universalen Weltgesellschaft als dem säkularen Erlösungsprojekt der „Postmoderne“ seit Jahren zugearbeitet. Nicht selten werden bei diesen ideologischen Lockerungsübungen die Grenzen der Absurdität überschritten. So warf Thomas Steinfeld, Kulturkorrespondent der Süddeutschen Zeitung (SZ), in einem Artikel über den dänisch-schwedischen Grenzstreit die Frage nach einem „Gerücht namens ‘nationale Identität’“ auf und fügte dem Begriff „das eigene Volk“ in Klammern die Worte hinzu: „Was immer das sein mag“. Nicht nur Dänen und Schweden werden sich verwundert die Augen gerieben haben, denn außer bei deutschen Linken und Linksliberalen dürfte sich in den Nachbarländern kein Volk und keine Nation finden, die nicht wüßte, daß sich die jeweilige Identität in gemeinsamer Sprache, Kultur, Geschichte, Tradition und Mentalität manifestiert.

Auch in der Zeit wurden diese Wesensmerkmale unterschlagen, um aus Deutschland diverse „Deutschländer“ und aus „nationaler Einfalt Geschichten der Vielfalt“ zu destillieren, die zeigen sollen, wie man schon im Mittelalter aus Fremdem Eigenes gemacht habe. Carolin Emcke, als Kolumnistin der Süddeutschen Zeitung  die Erica Pappritz linksliberaler Moral-Etikette, will darum in Soziologen­deutsch den „pluralen Singular nationaler Kollektive“ durch einen „singulären Plural“ als Vielfalt der Einzelnen ersetzen. Sogar den Heimatbegriff versucht sie ihren Lesern auszutreiben, denn Heimat sei immer eine originale Fälschung, so wie das „Wir“, das die Geschichte von der Heimat erzähle.

Ihr Feuilleton-Kollege Andreas Zielcke wiederum ventiliert im Geist des „postnationalen Narrativs“ den Gedanken globaler offener Grenzen. Schließlich mache die kosmopolitische Vermischung durch den bis in entfernteste Winkel geteilten „way of life“ die Bürger mehr und mehr zu Weltbürgern. Der „progressive Individualismus“, so sein frohlockendes Resümee, könne dem Fremden sehr viel emphatischer begegnen als „scheinhomogen verklebte Kollektive“.

Angesichts dieses verbalen Trommelfeuers auf Nationalstaat und nationale Identität dürfte es wenig helfen, daß im Grundgesetz nach wie vor das deutsche Volk als Souverän firmiert, dem Kanzler und Minister den Treueeid leisten. Der Rekurs auf das Volk sei nämlich ein Mißbrauch, so Zielcke. 

In einem Grundsatzartikel legte er dar, warum die „Volksherrschaft“ der größte Feind der Demokratie sei: Zwar hielten die meisten Verfassungen, auch die deutsche, am Begriff des Volkes fest, doch das Volk, das die Verfassungstexte unterstellten, meine die Gesamtheit der Bürger als Souverän, das sich selbst die Gesetze gebe. In diesem Sinne sei das Volk eine Gemeinschaft von Freien, die sich als rechtlich verfaßtes Gebilde verstehe, „nicht als bloß naturwüchsig zusammengewürfeltes oder auch zusammengewachsenes Kollektiv“.

Damit meinte Zielcke die Nation als Willens- und Abstimmungsgemeinschaft französischer Prägung (ius soli = Bodenrecht) im Gegensatz zum 1913 in Deutschland eingeführten Staatsbürgerschaftsrecht, das sich am ius sanguinis, dem Blut­- und Abstammungsrecht, orientierte. Danach war Deutscher, wer mindestens einen deutschen Elternteil hatte. Diese Deutung der Nation und des Volkes als einer Schicksalsgemeinschaft wurde zum 1. Januar 2000 von Gerhard Schröders rot-grüner Regierung zugunsten des Bodenrechts abgeschafft.

 In Europa halten indes noch siebzehn Staaten am Abstammungsprinzip fest, darunter die Schweiz, Österreich, Italien, Dänemark und Schweden. Zielcke kam daher nicht umhin, anzuerkennen, daß der Begriff Volk einen Doppelsinn hat – einen in seinen Augen guten, weil demokratischen, und einen „verhängnisvollen“. 

Letzterer werde von autoritären Regierungen wie in Budapest und Warschau semantisch ausgenutzt, um Selbsterhöhung und Abschottung ihres Volkes voranzutreiben – wie Ungarns Staatschef Viktor Orbán, der erklärt hat: „Wir sind Ungarn. Ungarn möchte keine Änderung aufgrund massenhafter Einwanderung. Wir wollen uns nicht ändern.“

Der Fehler ist die Annahme, der Mensch sei „frei“ und „gleich“ geboren. Tatsächlich gerät er bereits mit der Geburt in ein Geflecht von Bindungen und Traditionen (Land, Sprache, soziokulturelles Milieu), von dem er sich später nur teilweise lösen kann.  

Polen und Ungarn sind keine Einzelfälle. Zum Entsetzen aller Linken und Linksliberalen, zum Entsetzen der Eliten in Brüssel, Paris, Berlin und anderswo haben sich in EU-Europa Bewegungen formiert, die sich gegen die Überfremdung ihrer Völker wehren. Statt weiterer De-Nationalisierung fordern sie die Rückgewinnung nationaler Kompetenzen und beharren auf staatlicher Souveränität. 

Gegen diese Unbotmäßigkeit werden auf politischer und medialer Ebene Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, weil die schöne Utopie einer grenzen-, staaten- und klassenlosen Weltgesellschaft – vorerst als Modell in Europa – zu scheitern droht. Manche, die angesichts dieser „völkischen Revolution“ (Jakob Augstein) erzittern, halluzinieren wie der Sohn des Spiegel-Gründers bereits die Wiederkehr des Faschismus herbei. In Wahrheit jedoch ist die Gefahr für Zusammenhalt und Sicherheit der Gesellschaft weniger durch den propagandistisch aufgebauschten „Kampf gegen Rechts“ abzuwenden, sie geht vielmehr von jenen aus, die in Politik, Justiz, Medien und leider auch in manchen Polizeibehörden über Macht und Deutungshoheit verfügen.

Der Fehler Linker und Linksliberaler ist die Annahme, der Mensch sei „frei“ und „gleich“ geboren. Tatsächlich gerät er bereits mit der Geburt in ein Geflecht von Bindungen und Traditionen (Land, Sprache, soziokulturelles Milieu), von dem er sich später nur teilweise lösen kann. Selbst ein erklärter „Antideutscher“ wie beispielsweise Jürgen Trittin wird, ob er will oder nicht, für das Ausland stets ein Deutscher bleiben. Die nationale Identität hat somit nichts mit völkischem Denken zu tun.

 Schließlich kann nur ein Mindestmaß an kollektiver Gemeinsamkeit das Überleben einer aus heterogenen Individuen zusammengesetzten Gesellschaft gewährleisten. Dies als Rassismus zu denunzieren (Oswald Spengler: „Es kommt nicht darauf an, Rasse zu sein, sondern Rasse zu haben“), ist böswillig.

In der Auseinandersetzung zwischen Rechts und Links spiegelt sich daher die Frage nach dem grundsätzlichen Sein des Menschen wider: hier das Gewachsene, nicht zuletzt die jahrzehntelange Prägung durch die kulturelle Herkunft, dort das Erdachte – hier das konkret Natürliche, dort das abstrakt Konstruierte einer ersehnten Friedensgemeinschaft aller Menschen. 

Wo die Wahrheit liegt, hat der dänische Philosoph Sören Kierkegaard 1855 prägnant formuliert: „Jede Bestimmung, die für alle gilt, kann nicht in das Dasein selbst eingreifen. Nimm die Bestimmung: Mensch. Wenn wir alle Menschen sind, so ist dieser Begriff aufgehoben; wenn alle es sind, dann ist dies: es zu sein = Nichts.“






Peter Kuntze, Jahrgang 1941, war Redakteur der Süddeutschen Zeitung. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die Ideologie des „Menschismus“ („Völlig losgelöst“, JF 38/15).