© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/16 / 12. Februar 2016

Sprengstoff für die Politik
Neben seinem Einsatz beim Bergbau und Militär entdeckten auch Attentäter die Vorzüge des Dynamits
Wolfgang Kaufmann

Im Zuge der industriellen Revolution und des damit verbundenen Baus von Eisenbahnentrassen, Tunneln und Kanälen wurde im 19. Jahrhundert der Ruf nach einem wirksameren Sprengstoff als Schwarzpulver laut. Und der schien dann schließlich auch mit dem Nitroglycerin gefunden zu sein. Allerdings war diese schwere, ölige Mischung aus wasserfreiem Glycerin mit konzentrierter Schwefel- und Salpetersäure, die der Turiner Chemiker Ascanio Sobrero erstmals 1847 im Labor hergestellt hatte, wegen ihrer extremen Stoß- und Erschütterungsempfindlichkeit höchst schwierig zu handhaben. 

Daran änderte auch der Umstand nichts, daß der schwedische Erfinder Alfred Nobel 1863 eine spezielle, mit Knallquecksilber gefüllte Kapsel entwickelte, welche es ermöglichte, das brisante „Sprengöl“ einigermaßen sicher aus der Ferne zu zünden: Ständig kam es irgendwo auf der Welt zu schweren Zwischenfällen beim Transport von Nitroglycerin. So ereigneten sich allein im April 1866 drei folgenschwere Unglücke. Zuerst flog das US-amerikanische Dampfschiff „European“ vor der Küste von Panama in die Luft, was 47 Besatzungsmitglieder das Leben kostete, dann starben 15 Menschen bei einer Explosion im Lagerhaus von Wells Fargo in San Francisco, und schließlich traf es zwei Tage später auch noch sechs Arbeiter der Central Pacific Railroad, die Nitroglycerin durch die Sierra Nevada kutschieren wollten.

Selbst Alfred Nobel, der bald über die größten Erfahrungen im Umgang mit dem heimtückischen Sprengstoff verfügte, blieb nicht verschont: Am 3. September 1864 detonierten in der Stockholmer Produktionsstätte des Chemikers 125 Kilogramm Nitroglycerin, wodurch sein Bruder Emil und vier weitere Personen in Stücke gerissen wurden. Das hinderte den hartnäckigen Schweden jedoch nicht daran, die gefährliche Substanz weiter zu produzieren und zu diesem Zweck zwei neue Fabriken im Vinterviken-Fjord und in Krümmel unweit von Hamburg zu errichten.

Friedrich Schell hatte Dynamit zuerst entwickelt

Gleichzeitig versuchte Nobel, auf dessen Vater Immanuel übrigens das damals gebräuchliche Verfahren zur industriellen Herstellung von Nitroglycerin zurückging, die Gefährlichkeit des Sprengstoffs durch die Beimischung verschiedener stabilisierender Zusatzstoffe wie Gips, Holzkohle, Ziegelstaub und Zement zu vermindern. Damit erzielte er aber zunächst keine brauchbaren Ergebnisse, bis ihm dann irgendwann im Laufe des Jahres 1866 der Zufall zu Hilfe kam. Während eines Nitroglycerin-Transports in Krümmel tropfte ein wenig von dem Öl in das Bett aus Kieselgur, in dem die Behälter mit der sensiblen Substanz ruhten. Hierdurch entstand eine breiige und offenkundig nicht explosive Masse, was Nobel sofort zu weiteren Versuchen animierte. In deren Verlauf fand er dann heraus, daß eine Mischung aus 75 Prozent Nitroglycerin und 25 Prozent Kieselgur, also Mehl aus den porösen Schalen fossiler Kieselalgen, stoßsicher ist, aber dennoch ihre Brisanz behält.

Seine Kreation, von der er zeitlebens behauptete, es habe sich trotz des Vorfalls in Krümmel um keine unerwartete Nebenbei-Entdeckung gehandelt, nannte Nobel Dynamit, nach dem griechischen Wort „Dynami“, das für „Kraft“ steht. Und natürlich ließ er den neuen, leichter zu handhabenden Sprengstoff patentieren – zunächst in Großbritannien und dann später auch in zahlreichen anderen Staaten. Dabei war ihm eigentlich der Clausthaler Bergrat Friedrich Schell zuvorgekommen: Wie man heute weiß, vermengte der schon geraume Zeit vor Nobel Nitroglycerin mit Pochsand, also feingemahlenem Erz, was zu ganz ähnlichen Ergebnissen führte.

Aber dem deutschen Beamten fehlte es eben an der Geschäftstüchtigkeit des schwedischen Unternehmers, und deshalb konnte Nobel den Ruhm für die Unschädlichmachung des Spreng-öls ganz für sich beanspruchen. Zugleich fielen dadurch nun aber auch die Schattenseiten dieser Erfindung allein auf ihn zurück. So erwies sich das Dynamit nämlich ebenfalls nicht als vollkommen sicher: Wenn es in feuchter Umgebung gelagert wurde, trat Nitroglycerin aus dem Kieselgur aus, was dann zur Explosion führen konnte.

Darüber hinaus sorgte das innovative und praktisch von jedermann einsetzbare Dynamit für die Entstehung einer regelrechten Terroristenszene. Nachdem ab 1867 die industrielle Produktion des Sprengstoffs begonnen hatte – Nobel verfügte bald über 94 entsprechende Fabriken in 20 Staaten der Erde –, begannen politische Aktivisten aller Art, Attentate mittels Dynamit zu verüben. Dabei kam es besonders in Westeuropa zu einer beispiellosen Welle von Anschlägen, hier krachte es allein 1892 über eintausendmal. Prominentestes Opfer der sogenannten „Dynamitarden“ war der russische Zar Alexander II., der am 13. März 1881 zu Tode kam, als ihm der polnischstämmige Technikstudent Ignacy Hryniewiecki eine selbstgebastelte Bombe vor die Füße warf. Ebenso entgingen Kaiser Wilhelm I. und dessen Sohn, der spätere 99-Tage-Kaiser Friedrich III., sowie der König von Sachsen und zahlreiche weitere deutsche Fürsten, die zur Einweihung des Niederwalddenkmals bei Rüdesheim gekommen waren, 1883 nur knapp einem Dynamitminen-Anschlag der Anarchisten Franz Reinhold Rupsch und Emil Küchler: Die Zündschnur der Ladung erlosch wegen Nässe.

Durch Dynamit entstand neuartige Attentäterszene 

Vor diesem Hintergrund nutzte es Nobel relativ wenig, daß ihm 1875 auch noch die Entdeckung gelang, daß sich Nitroglycerin gleichermaßen mit Kollodiumwolle vermischen läßt, wodurch ein noch weniger gefährlicher und sogar unter Wasser verwendbarer Explosivstoff, nämlich die Sprenggelatine, entsteht. Er und kein anderer wurde für die zahlreichen Dynamit-Unfälle und die Entstehung der neuartigen Attentäterszene verantwortlich gemacht.

Deshalb spricht vieles dafür, daß die Stiftung des Nobelpreises im Testament vom 27. November 1895 nicht allein aus der Abneigung des Schweden gegen den Krieg oder aus dem Briefwechsel mit der Radikalpazifistin Bertha von Suttner resultierte, wie es heute gern kolportiert wird, sondern auch aus dem Bemühen Nobels, das Ansehen seines Namens und seiner Person, welches durch die Unvollkommenheit und den Mißbrauch des Dynamits erheblich gelitten hatte, zumindest post mortem reinzuwaschen.