© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/16 / 12. Februar 2016

Vom vierten Stamm zum Bauernopfer
Sudetendeutsche Landsmannschaft: Gernot Facius über die tragische Geschichte des politischen Bedeutungsverlustes
Klaus Fritsch

Es war einmal. So fangen manchmal auch politische Geschichten an. Einst zählte die Sudetendeutsche Landsmannschaft (SL) mit ihren geschätzt 200.000 Mitgliedern zu den Vertriebenenorganisationen, die sich durch einen pointierten Standpunkt auszeichneten. Ihre drei Gesinnungsgemeinschaften – Ackermann-Gemeinde (katholisch, christlich-sozial), Seliger-Gemeinde (sozialdemokratisch) und Witikobund (nationalkonservativ) – zogen trotz weltanschaulicher Gegensätze in der Heimatpolitik an einem Strang. 

Damit hat es nun ein Ende. Die am 28. Februar 2015 von der Bundesversammlung in München beschlossene, manche sagen: vom Vorstand durchgepeitschte, Satzungsänderung hat das Fundament der SL brüchig werden lassen. Nun wird vor Gericht darüber gestritten, ob der Verzicht auf die Paragraphen, in denen von der „Wiedergewinnung der Heimat“ (zugegeben eine Formulierung, die Mißverständnisse provoziert) und der Forderung nach Restitution des den Vertriebenen geraubten Eigentums die Rede ist, juristisch einwandfrei zustande gekommen ist. 

Doch darum geht es dem langjährigen Welt-Journalisten Gernot Facius in seinem Band „Getäuscht und allein gelassen“ nicht primär, er sucht vielmehr die politischen Motive zu ergründen, die hinter dem Wechsel in der SL-Programmatik stehen. Der eingetragene Verein Sudetendeutsche Landsmannschaft Bundesverband kann gar keine verbindlichen Verzichtserklärungen abgeben, das steht nur den einzelnen Betroffenen zu. Wer ist also der Nutznießer dieser politisch gemeinten „Reform“, wer war der Treiber, wer der Getriebene? 

Der Autor wird, daran läßt er keinen Zweifel, den Verdacht nicht los, daß sich der Bundesverband der SL ganz in die Abhängigkeit von der bayerischen Staatsregierung unter Horst Seehofer (CSU) begeben hat, der nicht müde wird, die Zusammenarbeit mit Prag zu loben und in der Tschechischen Republik eigene, weiß-blaue Interessen verfolgt. Das führt direkt zu der Frage, was die Schirmherrschaft Bayerns über die Sudetendeutschen noch wert ist. War die Streichung der einschlägigen Satzungsbestimmungen und ihre Ersetzung durch Verweise auf die EU-Grundrechtscharta, die in der tschechischen Politik so gut wie keine Rolle spielt, wirklich alternativlos? Droht jetzt ein Krieg der Generationen, der die Volksgruppe eines nicht fernen Tages zerreißt? 

In der Erlebnisgeneration wachsen die Vorbehalte gegen einen als naiv empfundenen Dialog-Kurs der Verbandsspitze um den früheren CSU-Europaabgeordneten Bernd Posselt. Seine „Volksdiplomatie“ war partiell erfolgreich; das zu leugnen wäre unredlich. Aber diesem Konzept ist auf der politisch relevanten Ebene der Erfolg versagt geblieben. Vom primitiven Kollektivschuld-Denken gegenüber den ehemaligen deutschen Landsleuten hat sich das offizielle Prag nicht verabschiedet, daran ändern auch einige „wunderbare Reden“ (Posselt) ehemaliger und aktiver tschechischer Politiker wenig. 

Der im egerländischen Karlsbad geborene Facius war vor zwanzig Jahren an der sudetendeutsch-tschechischen Initiative „Versöhnung ’95“ beteiligt; ihn wird man also schwerlich revanchistischer Tendenzen bezichtigen können. Er bettet die aktuelle Entwicklung im bilateralen Verhältnis ein in einen, keineswegs vollständigen, Abriß des Weges von der Gründung der Tschechoslowakei 1918/19 über die Schicksalsjahre 1938/39 und den Zweiten Weltkrieg bis zur „Transfer“ genannten Vertreibung der Deutschen aus Böhmen, Mähren und Schlesien. Beschrieben wird die verhängnisvolle Rolle des „Liquidators“ Eduard Benes und seiner berüchtigten Unrechts-Dekrete, ohne allerdings auszublenden, daß dieses Nachkriegsverbrechen ohne die Zustimmung oder zumindest Tolerierung breiter tschechischer Volksschichten, einer „nationalen Front“, nicht möglich gewesen wäre; selbst kirchliche Würdenträger luden Schuld auf sich. 

Und heute? Heute wird die Deutsch-Tschechische Erklärung aus dem Jahr 1997 für eine Politik des Schlußstrichs instrumentalisiert, obwohl sie keinen völkerrechtlichen Vertragscharakter besitzt. Der Autor nennt sie unter Berufung auch auf tschechische Stimmen eine Vereinbarung zwischen Prag und Berlin auf Kosten der Sudetendeutschen. Die Kritik an der Erklärung wird von der Landsmannschaft, wenn überhaupt, nur noch im Kammerton vorgetragen. Warum? Weil auch hier das „Schirmland“ Bayern beteiligt war. 

Es gehört nicht viel Phantasie dazu, um vorauszusagen, daß Facius sich mit dieser Studie insbesondere auf der Funktionärsebene nicht nur Freunde macht. Er wagt es, trotz seiner Sympathie für Václav Havel, Mythen und Legenden um den Dichter-Präsidenten zu erwähnen. Sein Befund: Auch die „Lichtgestalt“ Havel, der Held der samtenen Revolution 1989, war letztlich ein Gefangener tschechischen chauvinistischen Denkens. Stück für Stück mußte er auf Abstand zu dem gehen, was er 1989/90 im positiven Sinn über das sudetendeutsch-tschechische Verhältnis geäußert hatte. Selbst einem Humanisten vom Range Václav Havels ist es nicht gelungen, den vertrackten böhmischen Knoten zu entwirren. Wahrscheinlich, und das ist die versteckte Botschaft des Buches von Gernot Facius, wird das auch mit „Reformen“ à la Posselt/Seehofer, nicht gelingen. Sie werden eher als sudetendeutsches Einknicken vor den Betonköpfen an der Moldau verstanden werden.