© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/16 / 12. Februar 2016

Frisch gepresst

Präventivkrieg. In einer die „Schuldfrage des 2. Weltkriegs“ betreffenden Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Wissenschaftsfreiheit (nachzulesen im 90. Band der Entscheidungssammlung) heißt es, daß auch „Auffassungen, die sich in der wissenschaftlichen Diskussion durchgesetzt haben, der Revision und dem Wandel unterworfen bleiben“. Denn die „freie Diskussion“ sei „das eigentliche Fundament der freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft“. Gleichwohl zeigt sich die etablierte Zeitgeschichtsforschung unwillig, zwei zentrale Dogmen bundesdeutscher Geschichtsideologie – „Alleinschuld“ des Reiches am Kriegsausbruch 1939 und „Überfall auf die friedliebende Sowjetunion“ 1941 – solcher „Revision“ zu unterziehen. Im Gegenteil: Vorrangig die sich seit etwa 1985 häufenden Studien fachlicher Außenseiter zur Frage, ob die Wehrmacht im Juni 1941 in einen Aufmarsch der Roten Armee hineinstieß und mithin einen „Präventivkrieg“ und somit keinen Überfall geführt habe, wurden von den beamteten Hütern des Status-quo-Wissens regelmäßig als „NS-Apologie“ stigmatisiert. Bei dem fulminanten Werk, das jetzt der ehemalige NVA-Generalmajor Bernd Schwipper zum Thema vorlegt, dürfte man ähnliche Abwehrreflexe mit schwersten Glaubwürdigkeitseinbußen bezahlen. Denn als promovierter Militärwissenschaftler ist Schwipper vom Fach, er spricht Russisch, schöpft ausführlich aus russischen Archiven, beherrscht das Handwerk des Quellenkritikers virtuos. Und er gelangt nach 500 Seiten akribischer Analyse zu einem eindeutigen Urteil: „Ja, der Angriff der Wehrmacht war ein Präventivschlag!“ (wm)

Bernd Schwipper: Deutschland im Visier Stalins. Verlag Druffel & Vowinckel, Gilching 2015, gebunden, 551 Seiten, Abbildungen, 24,80 Euro





Utopien. Als 1990 die sozialistische Fahrt in die „klassenlose Gesellschaft“ endete, startete im kapitalistischen Lager mit der „multikulturellen Gesellschaft“ ein neues sozialutopisches Experiment zur Herstellung von Gleichheit und (Geschlechter-)Gerechtigkeit. Anhand von Horst Pollers kompakter, materialreicher und gut strukturierter Ideengeschichte des Utopismus kann sich der Leser ausrechnen, daß auch der Multikulturalismus, wie alle überspannten Zukunftsmodelle vor ihm, im  Realitätstest scheitern wird. (dg)

Horst Poller: Utopie und Wirklichkeit. Eine kleine Kulturgeschichte der Zukunftsbetrachtung. Books on Demand, Norderstedt 2016, gebunden, 236 Seiten, 9,99 Euro