© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/16 / 19. Februar 2016

„Ich wollte ein Zeichen setzen“
In Halle hält Bundeskanzlerin Angela Merkel eine Festansprache vor exklusivem Publikum. Plötzlich steht einer der Gäste auf, um gegen ihre Flüchtlingspolitik zu protestieren. Was bewegt einen ganz normalen Universitätsprofessor wie Thomas Rödel dazu, das zu tun?
Moritz Schwarz

Herr Professor Rödel, fiel es Ihnen schwer, sich zu Ihrer Protestaktion zu entschließen?

Thomas Rödel: Ja, sehr. Man ringt doch mit sich, denkt darüber nach, beim Autofahren, beim Joggen, beim Einschlafen. 

Und ist kurz davor, es doch sein zu lassen? 

Rödel: Nein, wenn ich mir etwas vorgenommen habe, dann mach ich das auch. 

Hatten Sie keine Angst vor Konsequenzen?

Rödel: Warum? Ich bin Beamter und  wußte, daß ich nichts tue, was ausreichen wird, mich zu entlassen. Das Schlimmste, was mir nach meinem Rechtsgefühl hätte passieren können, ist ein Vermerk in meiner Personalakte. Gut, das wäre die Sache wert. 

Das genügt schon, um viele abzuschrecken – überhaupt: sich zu exponieren, politisch aufzufallen, sich rechtfertigen zu müssen.

Rödel: Nein, das war für mich keine Frage. 

Sie hatten für Ihre Aktion ein selbstgemachtes Plakat mitgebracht. Hat das keiner kontrolliert?

Rödel: Diese Frage hat mir vorher auch Sorgen gemacht. Aber nein, es scheint zum Glück zunächst niemandem aufgefallen zu sein.   

Anwesend war ein geladener Kreis von Kollegen, die Presse, Sachsen-Anhalts Wissenschaftsminister Hartmut Möllring sowie Ministerpräsident Reiner Haseloff. Dann kam Ehrengast Bundeskanzlerin Merkel und begann ihre Festrede zur Eröffnung des Fraunhofer-Instituts in Halle. Hatten Sie kein Problem mit dem Lampenfieber?

Rödel: Doch, ziemlich! Man ist nervös und aufgeregt, obwohl es ja an sich gar keine so große Sache ist. Aber dann bin ich zum Glück doch aufgestanden, habe das Plakat hochgehalten und die Kanzlerin unterbrochen, um ihre „Wir schaffen das“-Politik anzuzweifeln. Ich hatte mir vorher natürlich einen Text überlegt. Aber dann habe ich zum Beispiel viel mehr über meine Kinder gesagt, als ich ursprünglich wollte. Nun, die Aufregung eben – der Mund ist total trocken. Na ja, schließlich habe ich so etwas vorher noch nie gemacht. 

Warum tut jemand, der „so etwas vorher noch nie gemacht hat“, so etwas plötzlich? 

Rödel: Gute Frage. Ich glaube, weil der Volksmund sagt, daß die „da oben“ nicht wissen, was uns „hier unten“ drückt und es ihnen mal jemand sagen muß. Ich glaube, weil ich drei Kinder habe, die zwei, vier und neun Jahre alt sind, und ich mich frage, in welchem Land sie eines Tages leben werden? 

Was fürchten Sie für Ihre Kinder? 

Rödel: Nichts direkt, denn als Beamter weiß ich meine Familie finanziell abgesichert. Wir sind alle gesund, uns geht es sehr gut. Außerdem bieten meine Frau und ich unseren Kindern ein gutes Elternhaus. Ich bin sicher, daß sie einmal qualifiziert sein und ihren Platz finden werden. Aber was ist mit dem Land? 

Was ist mit dem Land? 

Rödel: Man sieht doch die Lage so vieler Menschen, etwa die prekären Beschäftigungsverhältnisse, die niedrigen Löhne oder aktuell die leistungsschwachen Schüler. Und jetzt noch diese enorme Herausforderung der Integration so vieler Flüchtlinge aus ganz anderen Kulturkreisen – und ein Ende ist nicht in Sicht. Ich habe nicht das Gefühl, daß es da ausreicht zu postulieren: „Wir schaffen das!“ Das erweckt bei mir kein Vertrauen, im Gegenteil. 

Im Gegenteil? 

Rödel: Es ist ja nicht nur die Flüchtlingspolitik, ebenso der Euro oder die Energiewende, diese sogenannte „Alternativlosigkeit“.

Was meinen Sie damit? 

Rödel: Es gibt immer Alternativen, und über diese muß offen, ehrlich und vorbehaltlos gesprochen werden. So erscheint mir, man experimentiert im großen Stil und setzt dabei einfach alles aufs Spiel, ohne zu wissen, wie das ausgeht. 

Gehört es nicht zum Wesen eines Experiments, daß man eben das nicht weiß?

Rödel: Ja, und genau deshalb macht man zunächst kleine Experimente, vergrößert sie schrittweise und verändert immer nur einen Faktor ein wenig und beobachtet, wie es sich auswirkt.

Das war das, was Sie gegenüber der Kanzlerin kritisiert haben. 

Rödel: Ja, etwa: „Frau Merkel, von Ihnen als Physikerin erwarte ich verantwortungsvollere Entscheidungen.“ 

Warum als Physikerin?

Rödel: Weil sie als Naturwissenschaftlerin doch wissen müßte, was es bedeutet, gleich Großversuche zu machen, deren Ausgang niemand sicher vorhersehen kann. Übertragen auf die Politik ist das für mich verantwortungslos. 

Deshalb Ihr Transparent: das „Keine Experimente“-Wahlplakat der CDU von 1957?

Rödel: Eben. Das Plakat war mir noch aus dem Geschichtsunterricht bekannt. „Keine Experimente“, „CDU“ und der naturwissenschaftliche Touch  – das paßte doch! 1957 ging es auch um grundsätzliche Entscheidungen. Schauen Sie sich doch nur an, wohin uns etwa das Experiment Euro-Rettung und Griechenland gebracht hat: Europa war mal eine Einheit. Und nun kommt das „Asylpolitik-Experiment“, das in noch viel schnellerer Geschwindigkeit für noch viel mehr europäische Zerrüttung sorgen kann. Zwingt die Kanzlerin mit ihrer „Wir schaffen das“-Politik unseren europäischen Nachbarn und uns nicht etwas auf, was diese und wir eventuell gar nicht möchten? Und auf der anderen Seite ist da, wie gesagt, diese dekretierte Alternativlosigkeit: Das heißt, wer es wagt, Zweifel zu äußern, der bekommt Totschlagargumente zu spüren. 

Zum Beispiel?

Rödel: Das wissen Sie doch, das brauche ich jetzt nicht zu sagen. 

Sie meinen, zum Beispiel wird derjenige in die rechte Ecke geschoben? 

Rödel: Ja, den Eindruck hab ich. Oder er wird beschimpft wie der eigene Parteikollege Wolfgang Bosbach.

Der ob seiner Bedenken gegen die Euro-Politik 2011 von CDU-Kanzleramtsminister Ronald Pofalla mit den Worten „Ich kann deine Fresse nicht mehr sehen!“ zusammengebrüllt wurde

Rödel: Eben. Oder Sie werden in der gegenwärtigen Debatte auf der anderen Seite als „Gutmensch“ beschimpft. Auch das halte ich für eine Folge dieser Politik: Nicht nur in Europa, auch wir Deutsche sind gespalten – Deutschland ist in der Flüchtlingspolitik doch vollkommen polarisiert. Offenbar kann man nicht mehr miteinander diskutieren, ohne sich gegenseitig zu beschimpfen und zu verdächtigen. Ich finde das schlimm und ich meine, das war früher einmal anders. Wissen Sie, nach meiner Aktion schrieb mir jemand, daß ihm nicht gefallen habe, was ich gesagt habe. Aber, so schrieb er weiter, daß ich aufgestanden bin, das habe ihm gefallen! Und das wiederum hat mir gefallen.

Das heißt, Sie fühlen sich quasi nicht mehr „zu Hause“? 

Rödel: In gewisser Weise ja. Ich erinnere mich etwa an meine Abiturfahrt vor dreißig Jahren nach Marseille. Damals hieß es, geht bloß nicht in dieses oder jenes Viertel – heute sagt man No-go-Area. So etwas kannte ich damals in Deutschland nicht, und man hätte es nicht für möglich gehalten, daß es bei uns je so weit kommt. Heute haben wir so etwas – in welchem Ausmaß auch immer. Man würde nun meinen, das muß doch auf die politische Tagesordnung. Aber nein, man hat nicht das Gefühl – eher, daß die Politik dies nicht nur hinnimmt, sondern sogar mit der Politik, die dazu geführt hat, fortfährt. Helmut Schmidt hat einmal gesagt, das werde noch Mord und Totschlag geben. Früher hat man sich das ja nicht vorstellen können, aber inzwischen fragt man sich, was wenn er doch recht behält?

Sie sind CSU-Mitglied. Wie lange noch?

Rödel: Ja, ich bin CSU-Mitglied! Die CSU gehört der Regierung an und stellt leere Ultimaten. Unter anderem deshalb frage ich mich tatsächlich manchmal, wie lange ich noch dabei bin. Die CDU hätte ich schon lange verlassen.

Zunächst hat die Kanzlerin versucht, Ihre Intervention zu ignorieren. 

Rödel: Dafür habe ich Verständnis. Man muß sich in ihre Lage versetzen: Sie ist auf den eigenen Vortrag konzentriert, wird dann überrascht, kann nicht recht einschätzen, was passiert.

Sie sind von ihrer Reaktion nicht enttäuscht? 

Rödel: Nein. Immerhin hat sie mich sprechen lassen.

Und Ihnen dann zwar entgegnet: „Ich werde meiner Verantwortung gerecht und werde auf alles achten, so daß Deutschland eine gute Zukunft hat.“ Allerdings: Ihr Duktus dabei war erkennbar herablassend und abwiegelnd, Motto: Ist ja gut, du Wicht, Schluß jetzt!

Rödel: Ja, möglich. Aber mein Gott, selbst wenn, sie ist auch nur ein Mensch.

Sie hätte ausdrücken können, daß sie Ihre Sorgen ernst nimmt. Immerhin muß ihr angesichts des exklusiven Publikums klargewesen sein, daß Sie kein Spinner sind, sondern Vertreter der akademischen Mittelschicht. Dennoch hat sie mit Desinteresse und Überdruß reagiert. Verrät das nicht, wie sie offenbar über die Sorgen sogar der etablierten Bürger denkt?

Rödel: Das mag sein, ich will das dennoch nicht beurteilen. Es ist mein Fall, und wenn ich jetzt ihre Reaktion beurteile, entsteht der Eindruck, ich tue das, weil es um mich geht. Vielleicht hatte sie einfach einen schlechten Tag – das kann doch sein. Ich will daraus keine so weitreichenden Schlußfolgerungen ziehen.

Sigmar Gabriel hat Störer schon auf die Bühne gebeten und mit ihnen diskutiert. 

Rödel: Das finde ich natürlich toll, aber ich meine nicht, daß man das von einer Bundeskanzlerin erwarten kann. 

Von seiten des Publikums gab es keine Reaktionen. Hat Sie das enttäuscht? 

Rödel: Nein, um Beifall ging es mir wirklich nicht. 

Aber warum gab es keinen Beifall? Sind Sie unter Ihren Kollegen mit Ihren Befürchtungen allein?

Rödel: Das kann ich mir nicht vorstellen. Und wäre ich zu dem Ergebnis gekommen, daß ich mit meiner Meinung alleine stehe, hätte ich diese Aktion auf keinen Fall unternommen. Aber im Gegenteil: Familie, Freunde, Bekannte – mit wem man spricht, überwiegend werden diese Bedenken geteilt. Ich muß zugeben, daß ich nicht weiß, wie die Mehrheit meiner Kollegen darüber denkt, denn am Arbeitsplatz werden Gespräche über Politik eher gemieden. Aber warum sollte es da anders sein als im privaten Umfeld.  

Warum haben sie dann nicht reagiert? 

Rödel: Ich kann das verstehen, sie waren genauso überrascht wie Frau Merkel. Schon deshalb hält man sich zurück. Man ist zu Gast, und es ist die Kanzlerin, die spricht, da unterbricht man nicht einfach. Ich gebe selbst zu, daß meine Aktion nicht die feine englische Art war.

Danach wurden Sie aus dem Saal geführt. 

Rödel: Nein, ich habe ihn freiwillig verlassen. 

Aber man sieht in dem Mitschnitt auf Youtube doch, wie Sie hinausgebeten werden.  

Rödel: Nein, ich bin freiwillig gegangen, und das war auch so geplant. Natürlich ist man in so einer Situation ein Störer, und da kann man nicht einfach sitzen bleiben und weiter teilnehmen, als sei nichts gewesen. Schließlich hat man die Stimmung getrübt. Man konnte seine Botschaft loswerden – jetzt muß man aber auch ermöglichen, daß die anderen in Ruhe mit dem weitermachen können, wozu sie eigentlich gekommen sind. Und der Mann, von dem Sie meinen, er habe mich hinausgebeten, ist der Institutsleiter, der mich in der Tat auf meinem Weg nach draußen kurz begleitete und mir auch zugeraunt hat: „Mußte das sein?“, aber wir haben uns dabei zum Abschied die Hände geschüttelt. 

Und dann?

Rödel: Habe ich erstmal ein großes Glas Wasser getrunken und bin an die Hochschule gefahren.

Am nächsten Tag meldeten die Medien, diese erwäge Sanktionen gegen Sie. 

Rödel: Ja, allerdings ist klar, daß es keine Maßnahmen gegen mich geben wird. Ich wurde für mein Benehmen gerügt, und die Hochschule verlangt, daß ich mich beim Fraunhofer-Institut entschuldige. Das werde ich in den nächsten Tagen auch schriftlich tun – immerhin, ja, ich habe deren Veranstaltung tatsächlich gestört. 

Ihr oberster Chef, CDU-Wissenschaftsminister Möllring äußerte allerdings gegenüber der Presse deutliche Kritik. Er sprach Ihnen die „sittliche Reife“ ab und meinte verächtlich, er wundere sich, „wer heute so alles einen Professorentitel bekommt“. 

Rödel: Ja, aber wer so etwas unternimmt, der muß auch mit Kritik leben.

Wie sieht es von seiten der Bürger aus?

Rödel: Oh, für meine Begriffe waren die Reaktionen überwältigend. Aus meiner Sicht war das ja eine ganz kleine Aktion, vor kleinem Publikum. Ich dachte, das bleibt mehr oder weniger unter uns. Daß die Aktion sich aber dermaßen über das Internet und einige Medien verbreiten würde, daran habe ich vorher nicht gedacht. Jetzt weiß ich, was soziale Netzwerke sind. Bisher habe ich über 670 E-Mails bekommen. Bis jetzt sind fast alle Zuschriften zustimmend und bis auf ganz wenige auch seriös – es sind übrigens auffallend viele Akademiker und Akademikerinnen darunter. Zwei Zuschriften lehnen meinen Standpunkt ab. 

Fazit: Ihre Aktion war ein Erfolg? 

Rödel: Ja, ich bin zufrieden, denn was ich sagen wollte, habe ich gesagt. Damit habe ich erreicht, worum es mir ging: Ein Zeichen zu setzen und kurz aufzurütteln. Und wissen Sie, mir hat gefallen, was hinterher der Ministerpräsident Reiner Haseloff der Presse gesagt hat, der wie erwähnt während der Aktion auch im Raum war: „So ist die Demokratie eben. Ab und zu gibt es auch mal Zwischenrufe. Dafür schließlich sind wir 1989 auf die Straße gegangen.“






Prof. Dr. Thomas Rödel, wurde durch seinen im Internet verbreiteten Protestauftritt während der Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel zur Eröffnung des Fraunhofer-Instituts für Mikrostruktur von Werkstoffen und Systemen in Halle am 25. Januar 2016 bekannt. Rödel ist Professor für Organische und Makromolekulare Chemie an der Hochschule Merseburg und wurde 1967 im oberfränkischen Rehau geboren. Ein Video seines Auftritts kann bei Youtube unter „Protest gegen Merkel Flüchtlingspolitik Fraunhofer Institut in Halle“ angesehen werden.

 

 

weitere Interview-Partner der JF