© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/16 / 19. Februar 2016

An der Werkbank des Todes
Vor einhundert Jahren begann die mörderische Schlacht um Verdun / Die Rezeption dieser epocheprägenden Materialschlacht erfolgte höchst unterschiedlich
Karlheinz Weißmann

Der Soldat von 1917 ist ein ganz anderer als der Soldat von 1914.“ Mit diesem Satz beginnt ein Buch Werner Beumelburgs, das 1932 in der populären Reihe „Schriften an die Nation“ erschien. Er bezieht sich auf den Kontrast zwischen dem Enthusiasmus der Männer, als der Krieg begann, erfüllt vom Gedanken der nationalen Gemeinschaft, in Erwartung eines kurzen, ritterlichen Kampfes in buntem Rock, und dann dem Realitätsschock, den nicht nur die Länge und Erbitterung des Konfliktes auslöste – mancher glaubte, er werde niemals enden –, sondern auch die brutale Wirkung der Maschinenwaffen. Beumelburg fährt fort mit: „Drei Jahre Krieg haben ihn äußerlich und innerlich vollständig umgeformt. Verdun und die Somme haben ihm ihren Stempel in die Seele gebrannt.“

Ideelle Motive verkümmern auf existentielle Bedürfnisse

„Verdun“ und die „Somme“ waren Chiffren, die damals jeder Zeitgenosse verstand. Namen für die großen Schlachten des Jahres 1916, „Materialschlachten“, die zum ersten Mal in vollem Ausmaß zeigten, was „totale Mobilmachung“ bedeutete und wie der „totale Krieg“ aussah: über Tage, Wochen und Monate andauernder Einsatz moderner Kampfmittel, vor allem von Artillerie, Minen und Gas, der persönliche Tapferkeit, Führungsfähigkeit und Feldherrnkunst in den Hintergrund treten ließ, angesichts von logistischen Fragen, Organisations- und Nachschubproblemen, die dem Krieg jenen Charakter eines industriellen Prozesses verliehen, der sein Bild bis heute prägt. 

Die Verwendung des „Menschenmaterials“ und die Tötungseffizienz wurden zu zentralen Kategorien, die mit derselben Nüchternheit behandelt wurden, die der Wirtschaftsfachmann im Zivilleben an den Tag legte, um die Höhe der Kosten oder den Mitteleinsatz zu kalkulieren. Nur ging es jetzt nicht um einen möglichst hohen Profit, sondern darum, möglichst viele Gegner auszulöschen.

Man hat bei der Untersuchung privater Aufzeichnungen der Soldaten des Ersten Weltkriegs, vor allem Briefen und Tagebüchern, festgestellt, daß schon in den Monaten zuvor die ideellen Motive in den Hintergrund getreten waren. 

Die Zahl der Deserteure oder Meuterer blieb erstaunlich gering. Aber die Vorstellungen von Vaterlandsverteidigung, Pflichterfüllung, Kampf für die Demokratie, das Recht, die Zivilisation, die zu Beginn des Krieges und vor allem unter den zahlreichen Freiwilligen eine Rolle gespielt hatten, verloren ihre Überzeugungskraft. Es ging jetzt in erster Linie um Kameradschaft, das Verhältnis zum Vorgesetzten, den Versuch, unter den gegebenen Umständen Haltung zu bewahren, mit den dauernd schwieriger werdenden Umständen – Ernst Jünger äußerte einmal, die Wirkungen von Nässe und Kälte seien zermürbender gewesen als die des Beschusses – zurechtzukommen, Gefangenschaft, Verwundung, Verstümmelung oder Tod zu entgehen. Fatalismus war verbreitet. 

César Méléra, ein französischer Unteroffizier, ein Abenteurer, der vor dem Krieg auf eigene Faust die Welt umsegelt hatte, Gefahr, körperliche Strapazen und Anstrengungen gewohnt, notierte während der Schlacht um Verdun in seinem Tagebuch, er werde an den Horror erinnert, den er bei Poes Schilderung jenes Raumes empfand, dessen Wände auf den Eingesperrten zukommen, ohne Chance zu entfliehen. „Verdun ist furchtbar (...) weil der Mann gegen das Material kämpft“, schrieb er, und Verdun bedeute „den Bankrott des Krieges, den Bankrott der Kriegskunst: die Fabrik tötet die Kunst.“

Verdun wurde zum Synonym für die neue Kriegsform, ein wechselseitiges Gemetzel, dem zwischen Februar und Dezember 1916 etwa 275.000 Franzosen und 240.000 Deutsche zum Opfer fielen. Genau wird sich die Zahl nicht mehr feststellen lassen. Auf jeder Seite sollen rund 1,2 Millionen Soldaten im Lauf eines Rotationssystems durch die „Blutpumpe“ oder „Knochenmühle“ gegangen sein. 10.000 Artilleriegeschosse wurden stündlich, unter ohrenbetäubendem Lärm, auf Verdun abgefeuert. An einem einzigen Tag starben 7.000 Militärpferde, die man für den Transport einsetzte. 

Die Soldaten waren gezwungen, Stunden und Tage in ihren Stellungen zu bleiben, die Gasmasken immer vor dem Gesicht, unter Trommelfeuer, ohne ausreichende Versorgung mit Wasser, Lebensmitteln, Medikamenten, Verbandszeug und frischer Kleidung. Einige Dörfer in der Umgebung wurden vollständig zerstört, die Bäume der Waldgebiete, die im Schußfeld lagen, bis auf die Stümpfe vernichtet, die Vegetation hatte sich auch nach Jahren nicht erholt.

Der Mythos Verdun wird bis heute in Frankreich gepflegt

Jede Seite erklärte sich nach dem Abbruch des Kampfes im Winter 1916 zum Sieger, obwohl es den deutschen Truppen nicht gelungen war, die zur Festung ausgebaute Stadt einzunehmen oder die Franzosen bei der Verteidigung „weißbluten“ zu lassen, und die französischen Verbände lediglich unter hohen Verlusten den Gegner an weiterem Vordringen hindern konnten. In Deutschland spielte während der Zwischenkriegszeit die „Hölle von Verdun“ zwar eine gewisse Rolle für die Literatur des „Soldatischen Nationalismus“ – zu nennen sind neben Beumelburg vor allem Franz Schauwecker, Josef Magnus Wehner und in gewissem Sinn auch Hans Zöberlein –, und der Anfangserfolg des Sturms auf Fort Douaumont und dessen aufopferungsvolle Verteidigung entfalteten eine gewisse mythische Strahlkraft, aber es gelang doch nie, den Eindruck des großen, sinnlosen Sterbens zu tilgen. 

Ohne die Verarbeitung der Fronterfahrung in den Romanen Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ (1929) oder Arnold Zweigs „Erziehung vor Verdun“ (1935) unterschätzen zu wollen, spielte dabei auch das Zögern der Nationalsozialisten mit, ausgerechnet dieses Thema aufzugreifen und zu nutzen. Hitler tat einiges, um mit seiner Friedenspropaganda deutlich zu machen, daß er keine Wiederholung derartiger Massaker wollte. Wenn der deutsche Sieg über Frankreich 1940 auch als Vollendung dessen gedeutet wurde, was 1916 gescheitert war, blieb das ein Nebenaspekt, trat nicht in den Vordergrund.

Das ist auch deshalb aufschlußreich, weil zu dem Zeitpunkt mit Philippe Pétain der Mann an die Spitze des französischen Staates kam, der im Bewußtsein der Franzosen als „Sieger von Verdun“ galt. Selbstverständlich hatte es nach dem Ersten Weltkrieg auch in Frankreich eine wirkungsmächtige pazifistische Literatur gegeben – man nehme nur Henri Barbusses Roman „Feuer“ (1916) –, aber einflußreicher war die Rede von Maurice Barrès über die „voie sacrée“ – den „Heiligen Weg“, auf dem die Versorgung für die Truppen vor Verdun unter dauerndem Beschuß nach vorn gebracht wurde, und das Bild des heldenhaften „poilu“, der trotz härtester Bedingungen gegen den „boche“ ausgehalten hatte. Verdun war „französisch“, so wie die Schlacht an der Somme „britisch“ war. Insofern lag es nahe, daß die Exhumierung eines vor Verdun Gefallenen angeordnet wurde, um dessen Leichnam im Grab für den unbekannten Soldaten unter dem Triumphbogen in Paris beizusetzen. 

Zehn Jahre nach Kriegsende war neben dem Beinhaus auf dem Schlachtfeld und den großen Soldatenfriedhöfen in der Stadt selbst ein gigantisches Monument errichtet worden, gekrönt von der Allegorie eines gerüsteten Kriegers, der sich mit verschränkten Armen auf ein Schwert stützt und den Blick nach Osten in Richtung auf den „Erbfeind“ wendet; am Sockel der Satz eingegraben „Ils ne sont pas passés“ – „Sie sind nicht durchgekommen“. Über eine steile Treppe gelangt man zum Eingang einer Krypta, in der die Namen aller Soldaten aufgeführt sind, die mit der Verdun-Medaille ausgezeichnet wurden. Bis heute wird an jedem 1. November eine Fackel am Ewigen Feuer unter dem Triumphbogen entzündet und von Angehörigen des „Comité de la Voie Sacrée“ nach Verdun gebracht, um in der Krypta am Siegesmal eine Flamme zu entzünden, die bis zum 11. November brennt, dem Tag des Waffenstillstands, an dem der Krieg endete.

Pétain erhielt 1918 den Rang eines „Marschalls von Frankreich“, auch und gerade für seine Verdienste im Kampf um Verdun, und sein Prestige trug ganz wesentlich dazu bei, daß sich die Franzosen nach der Niederlage gegen die Wehrmacht und dem Zusammenbruch der Dritten Republik diesem greisen Heerführer zuwandten und von ihm in überwältigender Mehrheit die Rettung des Vaterlandes erwarteten. Davon hat man nach 1945 und dem neuerlichen Triumph über Deutschland nichts mehr wissen wollen. Geblieben ist die Erinnerung an Verdun, die in Frankreich ihren starken nationalen Akzent behalten hat – trotz der Versöhnungsgeste von Kohl und Mitterrand aus Anlaß des 70. Jahrestages des Kriegsbeginns –, in Deutschland ist sie eingegangen in die unscharfe Vorstellung einer blutrünstigen Vergangenheit, für deren Details sich nur Fachleute oder Menschen mit merkwürdigen Liebhabereien interessieren.

Verdun steht für einen Gestaltwandel des Krieges

Das heißt auch, daß man im einen wie im anderen Fall, wenn auch aus je verschiedenen Gründen, die epochale Bedeutung unterschätzt, die der Gestaltwandel des Krieges hatte, für den die Schlacht von Verdun steht. Noch ganz unter dem Eindruck des „Großen Krieges“ schrieb der amerikanische Autor F. Scott Fitzgerald: „Was an der Westfront geschah, kann nicht noch einmal geschehen oder jedenfalls noch sehr lange Zeit nicht. Die jungen Männer glauben, sie könnten es tun, aber sie könnten es eben nicht. Die erste Marneschlacht könnten sie wieder schlagen, aber nicht das hier. Zu dem hier braucht man Religion und Jahre des Wohlstands und der unbegrenzten Sicherheit und die genau festgelegten Verhältnisse zwischen den Klassen. (...) Dazu brauchte man ein die ganze Seele ausfüllendes gefühlsmäßiges Rüstzeug, das weiter zurückreicht als die Erinnerung. Man mußte die Erinnerung an Weihnachten haben und an Postkarten mit dem Kronprinzen und seiner Verlobten, an kleine Cafés in Valence und Biergärten Unter den Linden und standesamtliche Trauungen, an Derby-Besuche und an Großvaters Schnauz.“

Foto: Französische Infanteristen in dem von Tausenden Granaten umgepflügten Kraterfeld am Fort Vaux 1916: In der „Knochenmühle“ beziehungsweise „Blutpumpe“ von Verdun traten persönliche Tapferkeit, Führungsfähigkeit oder Feldherrnkunst in den Hintergrund