© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/16 / 26. Februar 2016

Roland Tichy. Der ehemalige Chef der Wirtschaftswoche betreibt einen lesenswerten Blog
Der Optimist
Ronald Berthold

Jahrzehntelang galt er als einer der wichtigsten und angesehensten Wirtschaftsjournalisten in Deutschland. Doch je mehr Roland Tichy begann, unangenehme Wahrheiten auszusprechen, desto mehr geriet er aufs Abstellgleis. Als einer der wenigen formulierte der Chefredakteur der Wirtschaftswoche seine ökonomisch begründeten Zweifel an der Euro-Rettungspolitik der Bundesregierung. Vor knapp anderthalb Jahren mußte er den Posten räumen, und seine Aufgaben übernahm die ehemalige SPD-nahe Staatssekretärin Miriam Meckel. Nun surft das Wirtschaftsblatt wieder auf politisch genehmer Welle.

Doch der heute 60jährige Oberbayer gab nicht klein bei. Er gründete einen Blog, der sich zu einer der besten Internetzeitungen Deutschlands gemausert hat. Auf „Tichys Einblick“ schreiben namhafte Journalisten und Publizisten, die eines mit dem Herausgeber gemeinsam haben: Sie bekommen in den Leitmedien kein Forum mehr, um ihre Ansichten darzustellen. Und so hat Tichy es geschafft, eine schlagkräftige Truppe lesenswerter Analytiker und Schreiber zusammenzustellen, deren Texte über die sozialen Netzwerke immer häufiger geteilt und empfohlen werden.

Trotz seiner Enttäuschungen, ja vielleicht sogar Demütigung durch das Establishment, gibt Tichy nicht den Scharfmacher. Im Gegenteil: Von seinem ganzen Charakter her ist er die Sachlichkeit in Person. Frisur, Brille und die unaufgeregte Art zu sprechen wirken auf seine Gegenüber zunächst ein wenig spröde. Der Diplom-Volkswirt war immer schon ein Mann der Zahlen – und nicht der unbelegten, emotionalisierten Behauptungen. Bevor Tichy zu einem Urteil kommt, wägt er ab. Daher wiegen seine Erkenntnisse auch schwerer als die vieler Schnellschützen in den Medien, die oft nur reflexartig die von ihnen erwarteten Reaktionen abliefern.

Daß in ihm aber nicht nur der nüchterne Analytiker steckt, zeigte er bei der Wirtschaftswoche dadurch, daß er der Querdenkerin Bettina Röhl auf den Onlineseiten wöchentlich ein Forum einräumte. Nach seinem Abgang nahm er die inzwischen 53 Jahre alte Tochter von Ulrike Meinhof und Klaus Rainer Röhl mit zu seinem Blog. Dort schreiben er und sein Team nun fundiert gegen die Eurorettungs- und Flüchtlingspolitik der Allparteienkoalition sowie gegen die Einheitsberichterstattung an.

Nach knapp einem Vierteljahrhundert als Chefredakteur – neben der Wirtschaftswoche auch bei Impulse, Telebörse, Euro – hat die deutsche Presse kaum noch eine Verwendung für Tichy gefunden. Daß er sich nicht nach New Orleans zurückgezogen hat, wo er einst studierte, zeigt: Der Publizist, der heute wahrscheinlich bekannter ist als zu Wirtschaftswochen-Zeiten, hat weder den Journalismus noch die Gesellschaft verloren gegeben. Denn im Grunde bleibt er ein Optimist.