© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/16 / 26. Februar 2016

Grüße aus Wien
Gatschige Ananas
René-Lysander Scheibe

Locker ratschte der Herr Travnicek in Richtung des Herrn Swoboda. „I loss mi nur net gern von so an dahergelaufnen Moarktstandlar am Schmäh hoilten, Oida. De Ananas san jo gatschig!“ Dieser sprachlichen Impression von meinem letzten Besuch auf dem Wiener Naschmarkt sei hier kurz nachgegangen. Beginnen wir bei den Ananas, hier ist keine imposante Südfrucht gemeint, sondern ein „Schachterl“ Gartenerdbeeren. Erdbeeren könnten ja auch Walderdbeeren sein, auch wenn kein Markthändler solche mehr anbietet. Und gatschig, also weich und so gut wie verdorben, geben sie kein Dessert ab nach Tafelspitz mit Petersilerdäpfeln (niemals Kartoffeln!).

Was aber meint Schmäh? Ein Begriff, der aus dem Jiddischen „auf uns“ gekommen ist. Ich würde so sagen: Schmäh meint eine Lebensweise mit leicht verminderter Realitätsanhaftung. Also etwas, das in protestantischen Gebieten niemals existieren könnte, denn da ist alles – angeblich? – ernst und klar. Und falls gelacht wird, dann doch lieber nur im Keller.

Vom Faktischen überrumpelt und daher  außerstande, die Lage sinnvoll zu deuten. 

Wer also beispielsweise etwas oder auch sich selbst besser, prunkvoller, verlockender und schöner darstellt als der objektive Befund es hergibt, der hält sein Publikum „am Schmäh“ und wird irgendwann zum Schmähtandler.

 Schmäh hat viele Gesichter. Ich hatte vor Jahren zum Beispiel für die Diplomprüfung im Arbeitsrecht sehr wenig gelernt, wußte aber, daß der Professor eher konservativ eingestellt ist. Also ging ich in Heeresuniform zur Prüfung, wies mich mit der Zeitsoldatenkarte aus, statt den Studentenausweis zu zücken, und es wurde prompt das Thema Präsenzdienst und Arbeitsrecht geprüft, das einzige Gebiet, das ich damals beherrschte. Diese Prüfung habe ich mit Schmäh geschafft, der hier auch eine Note Keckheit oder Trick beinhaltet. 

 Wenn einen Wiener aber der Witz oder die Einsicht in einer konkreten Situation verläßt, dann ist er „schmähstad“. Also vom Faktischen überrumpelt oder auch außerstande, die Lage sinnvoll zu deuten und angemessen zu handeln. Geistige Schockstarre gewissermaßen.

Der Schmäh ist die Lebensgrundlage des sehr wienerischen Berufs des Psychoanalytikers. Denn hier wird gedeutelt und am Schmäh gehalten, daß es eine wahre Freude ist und Privatpatienten wie auch Krankenkassen öffnen weit ihr Börserl, um teilhaftig an dieser wissenschaftlichsten und heilbringenden Form des Schmähs zu werden.