© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/16 / 26. Februar 2016

Das Mißtrauen gilt allen
Debatte: Drei Thesen zu den Gründen für die Glaubwürdigkeitskrise des Journalismus
Nicolaus Fest

Wer sich für den Stand des deutschen Journalismus interessiert, bekam vorige Woche viele Antworten. Zunächst versuchte der Spiegel, den verbreiteten Unmut gegenüber den Medien faßbar zu machen. Sechs Autoren durften mitwirken, sieben Seiten mit Anekdoten und Vermutungen füllen – doch das Ergebnis war nicht mehr als ein Schüleraufsatz. Kaum Analyse, zu den strukturellen Problemen des Journalismus ein einziger Satz, ganz am Ende. Stattdessen eine offene Kapitulation: In den Tagen der überbordenden Willkommenskultur, so der Spiegel, „sofort mit der kritischen Frage hineinzugrätschen, ob das alles überhaupt funktionieren kann, könnte vielleicht etwas viel verlangt sein. Auch Journalisten leben nicht außerhalb der Zeit. Nicht außerhalb von Stimmungen.“ Das Sturmgeschütz der Demokratie als populistische Wetterfahne, Journalismus nach Stimmungslage. Das hätte man nicht erwartet. 

Die zweite Offenbarung kam von Anja Reschke, Leiterin der Innenpolitik beim NDR und gerade ernannt zur Journalistin des Jahres. In ihrer Dankesrede bekannte sie: „Ich weiß nicht mehr, was Journalismus ist, was unsere Aufgabe.“ Und auch mit dem berühmten Wort Rudolf Augsteins, Journalismus sei „sagen, was ist“, konnte Reschke nichts anfangen. „Was heißt denn das?“

Was das heißt, war über Jahrzehnte jedem klar, und kein angelsächsischer Kollege würde sich zum gegenteiligen Bekenntnis versteigen. Journalismus ist Benennung der Fakten, und zwar – außer bei Meinungsstücken – unter Verzicht auf persönliche Färbungen. Das ist, was Augstein meinte. Doch für Reschke scheint Journalismus ein Mysterium. Noch heute wisse sie nicht, „wie man ‘Köln’ einordnen“ solle. Das sagt mehr über die Preisträgerin, als ihr lieb sein dürfte, und noch mehr über die Voreingenommenheit einer Willkommenskultur, in der für „Köln“ tatsächlich kein Platz ist. Ohnehin, so Reschke, herrsche immer die Perspektive des Berichterstatters, sei Objektivität nie zu erlangen – und daher, so die unausgesprochene Folgerung, müsse man sich auch gar nicht darum bemühen. So definiert Reschke den Journalismus 4.0: Ahnungslosigkeit plus Subjektivität. 

Doch sind Dankesrede wie auch das Stück im Spiegel nicht nur Dokumente der beruflichen Selbstaufgabe; sie sind Zeichen für den Niedergang der vierten Gewalt. Die Veröffentlichung der gefälschten Hitler-Tagebücher war eine Katastrophe für den Stern, ließ aber andere Medien unberührt; nun gilt das Mißtrauen allen. Auch der Vorwurf der Lügenpresse ist längst nicht mehr nur auf der Straße zu hören. Die Fehler und offenen Parteilichkeiten in der Berichterstattung zu Euro, Ukraine, „Flüchtlingen“ und den Vorkommnissen von Köln haben das Vertrauen in den Journalismus insgesamt erschüttert. Wenn alle ernsthaften Krisen Institutionenkrisen sind, dann ist es jetzt Zeit, sich Sorgen zu machen. Drei Thesen:

Einen Grund hat die Vertrauenskrise in der Entfremdung zwischen Redakteuren und Lesern. Für sie steht, zumindest bei der Bild-Zeitung, symbolisch die Tankkarte. Denn wann immer es um die Frage ging, ob nicht die steigenden Benzinpreise für eine Schlagzeile gut seien, wurde klar: Kein Chefredakteur, kein Stellvertreter, kaum ein Ressortleiter kannte die aktuellen Preise. Sie alle fuhren Geschäftswagen, sie alle tankten auf Kosten des Verlages. Ob der Preis pro Liter nun bei einem Euro lag oder bei fünf, bekamen sie nicht mit. In einer für Tausende Leser wichtigen Frage waren die Macher von Bild ohne irgendeine Nähe zu deren Lebenswelt. 

Das aber gilt nicht nur für die Tankstelle, und nicht nur für Bild. Wer sich die Mühe macht, die Wohnorte führender Journalisten zu ermitteln, bekommt ein ziemlich klares Bild vom präferierten sozialen Umfeld. Das ist eher Potsdam und Prenzlauer Berg als Neukölln oder Moabit, eher Gärtnerviertel als Neuperlach, eher Eppendorf als Wilhelmsburg. Wenn es um das Leben in sozialen Brennpunkten geht, um die Probleme an Schulen oder die nächtliche Sicherheit, müssen viele Leitende diejenigen fragen, die in den Redaktionskonferenzen kaum oder gar nicht gehört werden: Volontäre, Layouter, Fotografen, Boten. Aus eigener Anschauung kennt kaum ein Chefredakteur die Ängste der Leser. 

Diese Entfremdung merkt man allen Medien an, nicht nur denen des Boulevards. Verstärkt wird sie durch zwei Entwicklungen: Zunächst durch die auch vom Spiegel genannte Akademisierung des Journalismus; und damit einhergehend durch einen Linksruck, der den der Parteienlandschaft nachzeichnet. Schon 2009 verorteten sich laut einer Allensbach-Studie 72 Prozent aller Journalisten bei Rot oder Grün. Nachdem inzwischen die CDU nach links gerückt und die FDP medial tot ist, hat das einfache Bürgertum im Journalismus keine Stimme. Wohl auch deshalb wenden sich viele Leser ab, während in den Medien umgekehrt das Verständnis für konservative Positionen sinkt.

So ist man in den Redaktionsstuben politisch so unter sich wie einst die linke Kritikerlegende Pauline Kael mit ihren Kollegen beim New Yorker. Nach dem Wahlsieg Nixons meinte sie fassungslos, „Nixon könne nicht gewonnen haben, weil sie niemanden kenne, der für ihn gestimmt habe“. Klarer ist die Distanz zwischen Lesern und Medien nie benannt worden; und sie erklärt genau jene unwillige Irritation, die bei vielen deutschen Medienleuten auch gegenüber der AfD herrscht. Aus der Perspektive Prenzlberger Dachterrassen ist deren Erfolg sowenig einzuordnen wie der von Nixon. 

Ebenso verhängnisvoll ist der Mangel an Distanz. Nicht wenige Journalisten wollen dazugehören, wollen mitspielen, wollen Politik mitgestalten. Daß sich die Intendanten der öffentlich-rechtlichen Sender im Herbst im Kanzleramt einfanden, um sich von der Regierung den Blick auf die „Flüchtlingskrise“ erläutern zu lassen, ist nur eine der vielen skandalösen Grenzüberschreitungen; tatsächlich gibt es dergleichen viele. Die kritiklose Übernahme von Armutsberichten linker Wohlfahrtsverbände gehört ebenso dazu wie die jüngste Warnung deutscher Unternehmen vor den Milliardenkosten einer möglichen Grenzschließung. Auch dieser Alarm soll nach verläßlichen Quellen vom Kanzleramt initiiert worden sein, auch hier wurden die Zahlen bereitwillig kolportiert, ohne daß irgend jemand nachhakte. Wer am Tisch bleiben will, muß eben nach den Regeln des Tisches spielen. 

Am schwersten aber wiegt die mangelnde Distanz zu sich selbst, den eigenen Ansichten und Meinungen. Ob zu EU, Ukraine, Syrien oder „Flüchtlingen“, sicher ist im deutschen Journalismus immer eines: die eigene Gewißheit. Jan Fleischhauer sprach im Spiegel vom „Nanny-Journalismus“, von einer Form der betreuten Berichterstattung, als wären die Leser Kleinkinder. Journalismus als Erziehung. Da hat Skepsis gegenüber sich selbst, die wichtigste Eigenschaft des Journalisten, keinen Platz. 

Distanz zu den Lesern und deren Lebenswelten, zu wenig Distanz zu Mächtigen und sich selbst – das sind, in aller Kürze, die wesentlichen Gründe für den Niedergang des Journalismus. Handwerkliche Fehler kommen hinzu, die Vermischung von Meinung und Bericht wie auch die vielen falschen Begriffe, von denen „Flüchtling“ nur der absichtsvollste ist. 

Wenn jedoch selbst die Journalistin des Jahres nicht weiß, was sie macht, muß man sich nicht wundern. 






Nicolaus Fest ist Journalist und Jurist. Er war bis September 2014 stellvertretender Chefredakteur der Bild am Sonntag.