© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/16 / 26. Februar 2016

Asylgewährung im Spiegel der Ethik
Antworten der Philosophen
Björn Schumacher

Das Jahr ist noch jung, doch schon zeichnet es sich ab, wovor nüchterne Zeitgenossen gewarnt haben: Der Strom illegal nach Deutschland eindringender Migranten reißt nicht ab. Um so dringender fragt sich, ob wir Deutsche als Staatsvolk mo-ralisch verpflichtet sind, binnen weniger Jahre Millionen Fremde aufzunehmen.

Wer nach Moral und Sittlichkeit fragt, kommt an den beiden Hauptströmungen abendländischer Ethik nicht vorbei. Der handlungsbezogenen deontologischen (Pflicht)ethik steht die folgenbezogene konsequentialistische Ethik gegenüber. In modifizierter Form begegnet uns hier Max Webers Unterscheidung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik.

Das Grundmuster deontologischer Denkart bündelte 1895 der englische Romancier Thomas Hardy: „Do not do an immoral thing for moral reasons“ (Tue nichts Unmoralisches aus moralischen Gründen). Menschliches Verhalten wird ungeachtet seiner Folgen als gut, böse oder ethisch neutral bewertet. Eindrucksvoller Beleg für ein geschlossenes pflichtethisches System ist Immanuel Kants „Philosophie der praktischen Vernunft“.

Das Asylproblem verweist auf die Frage, ob Menschen in Not geholfen werden solle. Kant prüft das in seiner „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ (1785). Aus der reinen, von (empirischen) Sinneswahrnehmungen gelösten Vernunft gewinnt er neben dem Begriff des „guten Willens“ den folgenden „kategorischen Imperativ“: „Handle nur nach derjenigen Maxime, von der du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Dieser Imperativ wurde als „formal“ beziehungsweise inhaltsleer gescholten. Zu Unrecht: Er erklärt erstens die Widerspruchsfreiheit und zweitens die Verallgemeinerungsfähigkeit zu notwendigen Bedingungen einer gültigen moralischen Norm.

In seinen Ableitungen kommt Kant indes nicht ohne Empirie aus. Er stellt fest, daß die meisten Menschen nach Glückseligkeit streben. Dieses Verhalten ist für ihn verallgemeinerungsfähig, wenn es mit der Zwecksetzung einhergeht, auch anderen Personen zur Glückseligkeit zu verhelfen.

Warum aber sollen wir andere glückselig machen, ihnen etwa den Zugang zu elementaren Gütern und Menschenrechten verschaffen? Kant skizziert die Bedürfnisse von Personen in wechselnden sozialen Rollen. Moralisch geboten könne nur sein, was von jedem denkbaren Standort widerspruchsfrei gefordert werden könne. Kluge Menschen, so Kant, erstrebten ein Höchstmaß an Sicherheit und könnten nicht ernsthaft wollen, in einer Notlage von der zufälligen Hilfsbereitschaft ihrer Mitmen-schen abhängig zu sein.

Sind wir Deutsche also verpflichtet, Fremde aufzunehmen, weil wir an deren Stelle selber Asyl begehren würden? Würden wir das in Kenntnis aller Folgen überhaupt tun? Könnten uns Syrer oder Serben im umgekehrten Fall widerspruchsfrei politisches Asyl verweigern? Komplexe Situationen lösen sich nicht in simple politische Handlungsempfehlungen für Völker auf. Eine destabilisierende, am Ende nicht einmal (moderate) Muslime beglückende Migration findet im kategorischen Imperativ aber keine Stütze – um so weniger, wenn sie der von Kant verachteten „affektierten Humanität“ und „teilnehmenden Empfindelei“ entspringt.

Hilfe für die Bedrängten – ja, doch nicht um den Preis von Rechtlosigkeit und der Bildung bedrohlicher Gegengesellschaften. „Wohlgeordnete Völker“ (Rawls) dürfen nicht durch interkulturelle Massenzuwanderung in der Dunkelheit eines failed state versinken.

Explizit behandelt Kants Schrift „Zum ewigen Frieden“ (1795) den Aufenthaltsstatus von Ausländern. Proklamiert wird ein „Weltbürgerrecht“, das freilich „auf die Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt“ sein soll. Kant fordert kein dauerhaftes Bleiberecht, sondern ein Besuchsrecht zum Kennenlernen, dem Abbau von Mißtrauen und der Förderung eines friedensstiftenden Handels unter freien Völkern. Dieses Recht werde verletzt, wenn dem Besucher „fremder Länder und Völker“ das Besuchen „mit dem Erobern derselben für einerlei gilt“.

Zwar können Asylbewerber mit Ausnahme von Dschihadisten kaum als Eroberer gelten. Das rechtfertigt aber keine Willkommenshysterie. Krieg und Chaos in Syrien ist die eine, die durch Merkel-Parolen erblühte Deutschland-Sehnsucht der außerhalb der Kampfgebiete untergebrachten Syrer die andere Seite der Medaille. Diese sind mehrheitlich keine Flüchtlinge nach Art. 1 Abs. A Ziffer 2 Genfer Flüchtlingskonvention und fallen als Bürgerkriegsbetroffene unter die Kann-Vorschrift des Paragraphen 22 Aufenthaltsgesetz (subsidiärer humanitärer Schutz). Die Motivation der meist muslimischen Männer hat prägende wirtschaftliche Züge.

Eine verstörte Bundesrepublik reagiert darauf mit Rechtsbrüchen. Entgegen Art. 16a Abs. 2 Grundgesetz behandelt man die aus sicheren Drittstaaten einreisenden Asylbewerber wie anerkannte Asylberechtigte. Die EU-Verordnung „Dublin III“ wird unter Mißachtung ihres Normzwecks einseitig zu Lasten Deutschlands angewendet – auf Geheiß von Politikern, die als Erfüllungsgehilfen von Konzerninteressen und universalistischer Verschrobenheit auftreten.

Spontan denkt der Leser an Jean Raspails Dystopie „Das Heerlager der Heiligen“ (JF 34/15). Der französische Autor schreibt auch im Geiste eines Immanuel Kant, dessen Vernunftphilosophie für gefühlstrunkene „Willkommenskultur“ keinen Resonanzraum bietet.

Kants Argumentationskunst wirkt fort. Der US-amerikanische Philosoph John Rawls entwickelte seine „Theorie der Gerechtigkeit“ (1971) aus Versatzstücken des kategorischen Imperativs und des von Kant – im Anschluß an John Locke und Jean-Jacques Rousseau – verfeinerten Modells vom Gesellschaftsvertrag.

Hinter einem „Schleier des Nichtwissens“ über ihren Standort entscheiden sich die Mitglieder dieser Gesellschaft im „Urzustand“ notwendig für drei Grundprinzipien: a) das Prinzip gleicher Freiheit für alle, b) ein sogenanntes Differenzprinzip (ungleicher Verteilung von Gütern) und c) ein Vorrangprinzip, das die gleiche Freiheit im Konfliktfall dem Differenzprinzip vorzieht. Die Zusammensetzung der Gesellschaft ist vorvertraglich festgelegt. Sie folgt im Kern dem aristotelischen Bild des Zoon koinonikon (Gemeinschaftswesen) in einer durch sozio­kulturelle Prägung verbundenen Gemeinschaft freier, vernünftiger Personen.

Rawls optiert hier für den demokratischen Nationalstaat mit territorialer Integrität. Er ist kein Egalitarist oder Wertrelativist, der die Gleichheit absolut setzt oder die Durchbrechung einer exzessiven Gleichbehandlungsregel nur unter engsten Voraussetzungen gestattet. Indifferente, nach globaler Freizügigkeit („Bleiberecht für alle“) strebende Weltbürgerkollektive widersprechen seiner politischen Philosophie.

Rawls’ Konzept läßt Folgerungen zu: Hilfe für die Schwachen und Bedrängten bleibt ein unentbehrlicher moralischer Impuls – allerdings nicht um den Preis von Rechtlosigkeit und der Bildung bedrohlicher Gegengesellschaften. Im Lichte politischer Aufklärung entstandene „wohlgeordnete Völker“ (Rawls) dürfen nicht durch interkulturelle Massenzuwanderung in der Dunkelheit eines failed state versinken. Wann läßt man Bürger, die im virtuellen „Urzustand“ die Fundamente ihres Zusammenlebens gelegt haben, über zentrale Aspekte von Asyl und Einwanderung abstimmen?

Paradebeispiel konsequentialistischer Ethik ist der Utilitarismus. Danach ist kein menschliches Verhalten von vornherein gut oder böse. Es kommt allein auf seine Folgen an, vor allem auf „das größte Glück der größten Zahl“ (Jeremy Bentham, 1748–1832). Eine utilitaristische Grundnorm hätte folgenden Inhalt: „Denke vom Ende her“ (Respice finem), und handle so, daß die sittlichen Vorteile deiner Handlung deren Nachteile überwiegen. Vereinfacht gesagt: Der moralische Zweck heiligt die Mittel.

Die naturrechtliche Lehre von der Doppelwirkung bewertet Handlungen nach ihren positiven und negativen moralischen Effekten. Als nicht mehr legitim gilt die Handlung, wenn der Akteur böse Folgen absichtlich herbeiführt oder diese überhandnehmen.

Utilitarismus und Kantsche Pflicht­ethik haben nicht nur eine markante Schnittmenge: die Glückseligkeit als herausragenden Zweck des Moralprinzips. Bei aller methodischen Differenz finden sie zum gleichen Unwerturteil über Merkels Asylpolitik.

Typischerweise folgt der Utilitarist dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Für geboten hält er nur die zum Erreichen eines moralischen Zwecks erforderlichen Mittel. Warum sollte man fremde Menschen massenhaft nach Deutschland reisen lassen, wenn diese der Hilfe entweder nicht bedürfen oder ausreichend in heimatnahen Ländern versorgt werden könnten?

Zumindest würde der Utilitarist hier auf eine Pflichtenkollision stoßen. Eine etwaige Pflicht zur Asylgewährung würde mit der höherrangigen Pflicht kollidieren, die Erteilung weiterer Aufenthaltstitel zwecks Vermeidung von Chaos und fortschreitender islamischer Inkulturation drastisch einzuschränken. Nur ein deutsches Deutschland und ein (entbürokratisiertes) europäisches Eu­ropa auf ihrer traditionellen Wertebasis empfehlen sich als mächtige Streiter für Freiheit und Demokratie.

Diese Pflicht gehört nicht nur der moralischen, sondern auch der rechtlichen Ebene an. Der Bundespräsident und alle Regierungsmitglieder schwören im Amtseid nach Art. 56, 64 GG, ihre Kraft „dem Wohle des deutschen Volkes zu widmen, seinen Nutzen zu mehren und Schaden von ihm zu wenden“.

Mischformen deontologischer und konsequentialistischer Ethik finden wir bereits in Denkschulen von Antike und christlichem Mittelalter. Idealtypisch zeigt das die naturrechtliche Lehre von der Doppelwirkung. Sie bewertet Handlungen, die zugleich positive und negative moralische Effekte erzeugen. Als nicht mehr legitim gilt die Handlung, wenn der Akteur böse Folgen absichtlich herbeiführt oder diese – wie beim Asylchaos – überhandnehmen.

Damit zeichnet sich ab, daß ein alle Migranten umfassender Flüchtlingsbegriff keine christliche Grundierung hat. Er soll die Umverteilungspropaganda grünstichiger Kirchenfunktionäre veredeln, die amorphe „Flüchtlings“-Scharen mit Maria, Josef und Jesus gleichsetzen oder beim Thema grenznahe Transitzonen über Konzentrationslager halluzinieren. Eine wachsende Zahl Christen stößt diese häretische Mixtur aus Kollektivschuldkult, Mainstream-Sozialismus und halbfertiger Bibelexegese ab. Über Jahrhunderte bot das protestantische Pfarrhaus geistige Orientierung, heute nur noch Mitleid.

„Affektierte Humanität“ ist keine tragfähige politische Kategorie. Hinter dem freundlichen Gesicht der „Willkommenskultur“ verbirgt sich die Fratze deutscher Nationalneurosen. Konsequent zu Ende gedacht, fordern alle Ethiken mit staatsphilosophischem Anspruch eine enge, volksverträgliche Obergrenze beim Asyl. Sie wäre auch juristisch unbedenklich. „Kollidierendes Verfassungsrecht“ beziehungsweise „immanente Schranken“, also höherwertige Verfassungsprinzipien, begrenzen im Konfliktfall das Individualgrundrecht auf Asyl.






Dr. Björn Schumacher, Jahrgang 1952, ist Jurist. Bekannt wurde er durch die Studie „Die Zerstörung deutscher Städte im Luftkrieg“ (Graz 2008). Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Demokratie im Zeitalter supranationaler Strukturen („Der Souverän ist lästig“, JF 15/15).

Foto: Dominoeffekt: Vom Ende her denken