© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/16 / 26. Februar 2016

Ausverkauf genetischer Ressourcen
Die globalisierte Biopiraterie verschärft zunehmend den Nord-Süd-Konflikt
Christoph Keller

Anhand von zwei drastischen Beispielen erläutert der Agrarwissenschaftler Georg Kaiser Risiken und Nebenwirkungen der „Biopiraterie“ (Geographische Rundschau, 12/15). Zum einen ist da der indische Neem-Baum, der wegen der antibakteriellen und antiviralen Wirkungen von Rinde, Blättern und Samen den Einheimischen  als Dorfapotheke dient. Sein Anwendungsspektrum reicht von der Ayurveda-Medizin bis zur landwirtschaftlichen Schädlingsbekämpfung. Eine Vielseitigkeit, die vor 30 Jahren Firmen in den USA, Eu­ropa und Japan erkannten, die ihr Sortiment mit Neem-Produkten bereicherten und 400 Patente auf Wirkeigenschaften und Extraktionsverfahren anmeldeten. „Besonders aktiv“, so Kaiser, sei hierbei das US-Agro-Unternehmen W. R. Grace & Co. gewesen, das ein Fungizid auf Neem-Basis entwickelte. Dafür erteilte das Europäische Patentamt (EPA) der Firma das 1990 beantragte Patent.

Da im Einsatz gegen Pflanzenschädlinge erfolgreich, stieg weltweit die Nachfrage nach Neem-Produkten. Der Preis erreichte so schwindelerregende Höhen, daß ihn indische Bauern nicht zahlen konnten. Der direkte Zugriff auf „ihre“ Neem-Bäume war ihnen jedoch verwehrt, da Grace & Co. als Patentinhaber über das alleinige Nutzungsrecht verfügten. Ein klarer Fall von Ressourcenraub, auf den das EPA erst 2005 mit Rücknahme einiger Patente reagierte.

Konflikte um die biologische Vielfalt werden zunehmen

In seinem zweiten Beispiel zeigt Kaiser einen noch größeren politisch-ökonomischen Rahmen des Problems Biopiraterie auf. Dabei geht es um die Ausweitung des Patent- und Sortenschutzes unter dem Dach der Internationalen Union zum Schutz neuer Pflanzenzüchtungen (UPOV). In vielen Ländern Afrikas treffe diese Patentierung genetischer Ressourcen auf Widerstand. Über ihre Mitgliedschaft in der Welthandelsorganisation WTO seien sie jedoch gezwungen, entweder ein Patentrecht für Pflanzenzüchtungen einzuführen oder auf ein Schutzsystem eigener Art zurückzugreifen. Über bilaterale Verträge und durch politischen Verhandlungsdruck sind seit 1995 neunzehn afrikanische Staaten dem UPOV-Übereinkommen beigetreten. Folge: Ihren Landwirten wurden die „Rechte auf Nachzüchtung“ aus eigenen Erntebeständen oder Saatguttausch „vielfach entzogen“.

Solche Kommerzialisierung genetischer Ressourcen von Pflanzen, Pilzen und Tieren sowie die privatwirtschaftliche Aneignung indigenen Wissens über den Nutzen dieser Naturprodukte löste im vergangenen Jahrzehnt eine wahre Patentflut aus. Allein das EPA erteilte 3.800 Patente zu Lasten der Zentren biologischer Vielfalt im globalen Süden. Die Entwicklungsländer würden sich daher gegenüber den in bezug auf Biodiversität armen, aber finanzstarken Industrieländern zunehmend benachteiligt fühlen, vor allem auch deshalb, weil sie für die Nutzung von Medikamenten oder Saatgut, die aus ihren Ressourcen in den Labors des Nordens entwickelt worden seien, Gebühren zu zahlen haben.

Die daraus entspringenden, sich seit den achtziger Jahren häufenden Konflikte um die Nutzung des globalen Genpools hätten sich durch internationale Abkommen wie die 1992 auf dem Umweltgipfel in Rio verabschiedete Konvention über biologische Vielfalt (CBD) oder das seit 2014 völkerrechtlich bindende Nagoya-Protokoll durch die Verbesserung von Rechtssicherheit zwar entschärfen lassen. Gleichwohl setze sich die Biopiraterie fort, weil die „globale Durchsetzung des westlich-kapitalistischen Eigentumsbegriffs“ die zwischen Nord und Süd bestehenden Machtungleichgewichte zementiere.

„Die Privatisierung gesellschaftlichen Wissens und der damit verbundene Wissenstransfer in die Länder des globalen Nordens schwächen jene Gesellschaftsmodelle“, die nicht auf private Profitmaximierung, „sondern auf die gemeinschaftliche Nutzung der natürlichen Ressourcen ausgerichtet sind“. CBD und Nagoya-Protokoll könnten Biopiraterie lediglich im Einzelfall verhindern oder partiell zur Verbesserung der Lebensbedingungen lokaler Gemeinschaften beitragen. Den grundlegenden, systemimmanenten Trend zu privatwirtschaftlicher Ressourcen-Inwertsetzung würden sie nicht brechen. Es müsse daher damit gerechnet werden, „daß Konflikte um biologische Vielfalt und genetische Ressourcen weiter zunehmen“.