© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/16 / 26. Februar 2016

Der Flaneur
Ein modernes Wintermärchen
Ira Austenat

Als selbstbewußte, akademisch gebildete, mitten im Leben stehende Frau von heute fahre ich in den Winterurlaub in völliger Autarkie. So mein Plan. Das Auto natürlich mit aktueller Durchsicht, perfekter Winterausrüstung inklusive Handspaten, Streusalz, Wärmedecke, Eiskratzer und selbstverständlich Reservekanister für frostfreie Scheibenflüssigkeit. Müßig zu erwähnen, daß ich das Anlegen der Schneeketten ausgiebig geübt hatte.

Die einsame österreichische Bergstraße verlangte bald unerbittlich nach Schneeketten.

Dergestalt gerüstet, konnte mir nichts widerfahren, was einen vollemanzipierten Urlaub gefährdet hätte. Indes war ich des Wohlfühlfaktors wegen etwas spät aufgebrochen, und so begann es rasch zu dämmern, bevor das Ziel in Sicht kam. Zur Dunkelheit gesellten sich Schneefälle sibirischen Ausmaßes. Die einsame österreichische Bergstraße verlangte bald unerbittlich nach Schneeketten. Unverzagt schritt ich zur Tat. Doch die Hilfsmittel bei derart widrigen Bedingungen anzubringen – nach einer halben Stunde waren beide Ketten in unlösbarer Verknotung fahruntauglich um die Antriebsräder geschlungen. Mit einem nur leichten Anflug von Unruhe rief ich den Pannendienst. Was ich hörte, war ernüchternd. Diesen Abend steckten viele Reisende im gleichen Schneegestöber fest. Vor Ablauf zweier Stunden – keine Hilfe!

Nur jetzt nicht den Kopf verlieren: Ich hatte einen vollen Tank, eine Decke und warme Sachen, eine Cola auch. Ich würde überleben. Und stand im Dunkeln bei Schneesturm mutterseelenallein auf einer verlassenen Bergstraße. Meine Kleidung klitschnaß vom Umherkrauchen um meine 15-Zoll-Leichtmetallwinterräder. Und da geschah etwas völlig Unfaßbares: Ich heulte ... Ich heulte, bis ich nichts mehr sah. Die Tränen gefroren an den Wimpern. Ich war sicher: Mein Auto war für immer Schrott, ich hatte es auf dem Gewissen und würde dafür hier in der Einöde erfrieren müssen. Doch plötzlich, urplötzlich kam aus der Dunkelheit ein Licht. Ein Auto ... mit Allradantrieb ... mit einem männlichen Fahrer ... und den himmlischen Worten: „Gnä’ Frau ... jetzt kommen’S und schauen’S ... ’s ist alles halb so schlimm. Jetzt weinen’S net ... I maach des scho!“ Balsam, diese Zauberworte meines Schneekettenritters!