© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/16 / 04. März 2016

Rot muß von Blau und Gelb bekämpft werden
Von der Weltanschauung zur Weltdurchschauung: Vor hundert Jahren fiel in der Nähe von Verdun der expressionistische Maler Franz Marc
Reinhold Böhnert

Am 4. März 1916 fiel als Leutnant in der Nähe von Verdun der Maler, Graphiker und Plastiker Franz Marc, der schon zu Lebzeiten zu den Lichtgestalten der deutschen Moderne – soll heißen: des Expressionismus – gehörte. Wie für Wassily Kandinsky, mit dem er 1911 in München die expressionistische Künstlergemeinschaft „Der Blaue Reiter“ gründete, stellte auch für Marc die bildende Kunst primär eine Erscheinungsform des Geistes dar. Bis ins 19. Jahrhundert im wahrsten Sinne des Wortes noch im Dienst einer Welt-Anschauung stehend, sollte die Kunst der Gegenwart nun zur Durch-Schauung der Welt gelangen, was vor allem hieß, den Zeitgeist auszudrücken und auszudeuten.

Franz Marc wurde am 8. Februar 1880 als Sohn eines Kunstmalers in München geboren, wo er von 1900 bis 1903 die Kunstakademie besuchte und anschließend sein erstes Atelier in der Kaulbachstraße 68 bezog. 1905 lernte er seine spätere Wegbegleiterin und zweite Ehefrau Maria Franck kennen. Von ihr sind soeben im Siedler-Verlag, sechzig Jahre nach ihrem Tod von der Historikerin und Marc-Biographin Brigitte Roßbeck herausgegeben, aufschlußreiche, weil ungeschönte Erinnerungen an ihren Mann erschienen (Seite 21). 

Prägend für Marcs künstlerische Entwicklung wurden drei Paris-Reisen 1903, 1907 und 1912, bei denen er Vincent van Gogh und Paul Gauguin und ihr Streben nach „innerer Wahrheit“ für sich entdeckte. Dem schönen Schein der Naturbilder der Impressionisten konnte er dagegen nichts abgewinnen.

Anders als van Gogh und Gauguin fand Marc aber auch keinen Zugang zum Menschenbild. Zum symbolhaften Träger seiner bildkünstlerischen Grund-idee wurde das Tierbild, jedoch nicht, wie er 1910 in einem Brief schreibt, „in der Linie besonderer Tiermaler“. Marc dagegen rang um „einen guten, reinen und lichten Stil, in dem wenigstens ein Teil dessen, was wir moderne Maler zu sagen haben werden, restlos aufgehen kann. Ich suche mein Empfinden für den organischen Rhythmus aller Dinge zu steigern, suche mich pantheistisch einzufühlen in das Zittern und Rinnen des Blutes in der Natur, in den Bäumen, in den Tieren, in der Luft – suche das zum Bilde zu machen, mit neuen Bewegungen und mit Farben, die unseres alten Staffeleibildes spotten. Ich sehe kein glücklicheres Mittel zur Animalisierung der Kunst als das Tierbild, deshalb greife ich danach“.

Eine deutliche Zäsur in Marcs Leben markierte das Jahr 1910. Im Januar hatte er seine erste Begegnung mit August Macke und dem Kunstsammler Bernhard Koehler, der dem Künstler eine monatliche Beihilfe von 200 Mark gewährte und sich dafür das Vorkaufsrecht sicherte. Im Februar stellte Marc in einer Münchner Kunsthandlung zum erstenmal aus, und im April siedelte er für den Rest seines kurzen Lebens ins oberbayerische Sindelsdorf über.

Anfang 1911 schloß Marc Freundschaft mit Kandinsky. Nachdem sie gemeinsam die „Neue Künstlervereinigung München“ im Streit mit den am Gegenstand strikt festhaltenden Traditionalisten um Alexander Kanoldt verlassen hatten, begannen sie mit der Erarbeitung eines 1912 im Piper-Verlag erscheinenden Almanachs mit dem Titel „Der Blaue Reiter“, einer der wichtigsten Programmschriften des Expressionismus. Durch Kandinsky fand Marc auch den Weg von der gegenstandsbeschreibenden Lokalfarbe zur selbständigen Symbolfarbe: „Blau ist das männliche Prinzip“, schreibt er, „herb und geistig. Gelb das weibliche Prinzip, sanft und heiter, und Rot die Materie, brutal und schwer und stets die Farbe, die von den beiden anderen bekämpft und überwunden werden muß.“

Exzessive Lichtbündel und sich kreuzende Kraftlinien

In das Jahr 1912 fiel auch ein Besuch bei dem Kubisten und Mitbegründer der abstrakten Malerei Robert Delaunay in Paris, und ein längerer Aufenthalt in Berlin, wo Marc in Kontakt mit Paul Klee, den „Brücke“-Malern und mit Max Beckmann kam, der dem intellektuellen Münchner Expressionismus sehr kritisch gegenüberstand.

Im Sommer 1913 erreichte Marcs Schaffen sein Reifestadium. In Sindelsdorf entstanden „Der Turm der blauen Pferde“, „Tierschicksale“ und ein für Marc außergewöhnliches Bild mit einem räuberischen Wolfsrudel, das später, wohl nicht von Marc selbst, den Untertitel „Balkankrieg“ erhielt, weil es als Anspielung auf die Ereignisse auf dem Balkan 1912/13 verstanden wurde.

Die bevorstehende große Katastrophe lassen die „Tierschicksale“ bereits ahnen. Bewußt wird dies dem Künstler erst zwei Jahre später, als er an der Front steht und von Bernhard Koehler eine Kunstpostkarte mit den „Tierschicksalen“ erhält. Am 17. März 1915 schreibt Marc an seine Frau: „Bei ihrem Anblick war ich ganz betroffen und erregt. Es ist wie eine Vorahnung des Krieges, schauerlich und ergreifend, ich kann mir kaum vorstellen, daß ich das gemalt habe!“ Für Marc liegt in seiner scheinbar seherischen Gabe jedoch eine „künstlerische Logik“, nämlich „solche Bilder vor dem Krieg zu malen“, anstatt danach. „Da muß man konstruktive, zukünftige Bilder malen, nicht als dumme Reminiszenz nach dem Kriege.“

Wir sehen auf Marcs größtem Bild (1,96 mal 2,66 Meter) eine Katastrophe kosmischen Ausmaßes über die Welt, symbolisiert durch den Wald und die Tiere, hereinbrechen. Im Mittelpunkt steht hochaufgereckt ein zum Sterben bereites weißblaues Reh. Aber auch die Pferde und die anderen Tiere können sich vor den expressiven Lichtbündeln und den sich kreuzenden Kraftlinien nicht schützen.

Doch dieses Gemetzel hat seinen Sinn. Marc erinnert sich beim Malen an den vielgelesenen Philosophen Friedrich Nietzsche, der von der „ewigen Wiederkehr des Gleichen“ gepredigt hatte. Damit neues Sein entstehen kann, muß Nietzsche zufolge immer wieder die Welt vergehen. Dies ist für Marc, wie er später, am 18. März 1915, schreibt, „durchaus kein müßiger Gedanke, denn er greift tief in das Geheimnis der künstlerischen Gestaltung hinein“. Auf die Rückseite des Bildes schreibt Marc: „Die Bäume zeigen ihre Ringe, die Tiere ihre Adern.“ Auf den Rat Paul Klees erhielt es dann den passenderen Titel „Tierschicksale“.

Die Welt feiert ihre Wiederauferstehung

Für Franz Marc und die Malerei des deutschen Expressionismus steht wie ein leuchtendes Fanal das 2 mal 1,30 Meter große Gemälde „Der Turm der blauen Pferde“, das in Herwarth Waldens legendärem „Ersten Deutschen Herbstsalon“ in der Potsdamer Straße in Berlin zum erstenmal öffentlich zu sehen war und dessen Außerordentlichkeit schon Zeitgenossen erkannten. Ludwig Justi erwarb das Bild 1919 für die Nationalgalerie, hatte aber Mühe, seine ratlose Ankaufskommission zu überzeugen. Bis 1937, als es dann mit fünf weiteren Werken von Franz Marc in München als „entartet“ an den Pranger gestellt wurde, hing es im Kronprinzenpalais Unter den Linden. Über seinen Verbleib ist nichts bekannt. Der Name Hermann Göring ist wiederholt gefallen; er soll das Bild für seine Kunstsammlung vereinnahmt haben. 1945 soll das Bild aber noch im ehemaligen Preußischen Abgeordnetenhaus gesichtet worden sein.

Vor einer Landschaft mit Regenbogen sieht man vier übereinander angeordnete blaue Pferde im Profil, die, nach oben immer leichter werden und von innen zu leuchten scheinen. Den Sockel des turmartigen Gebildes bildet ein kraftvoller Hengst, die anderen Pferde sind eine Stute und zwei Fohlen. Im Gegensatz zu dem Breitformat der „Tierschicksale“, wo die Welt untergeht, feiert sie im Hochformat des „Turms der blauen Pferde“ ihre Wiederauferstehung. Man könnte es auch als einen Vorgang der Vergeistigung der Welt verstehen, auch als ihre Verwandlung in einen „kristallenen Sphärenklang“, wie ein Kritiker einmal geschrieben hat.

Bevor Franz Marc am 15. August 1914 als Freiwilliger ins Feld zog, malte er noch einige Bilder wie „Kämpfende Formen“ und „Tirol“ – beide in der Neuen Pinakothek –, deren Abstraktionsgrad kaum noch zu steigern war, wenn nicht die Gegenständlichkeit ganz verlorengehen sollte. Und in einem seiner an der Front geschriebenen „Aphorismen“ ist zu lesen: „Ich war von seltenen Formen umkreist, und ich zeichnete, was ich sah: harte, unselige Formen, schwarze, stahlblaue und grüne, die gegeneinander polterten. Ich sah, wie alles in eins war und sich im Schmerz störte. Es war ein schreckliches Bild.“

Man fragt sich unvermeidlich, welchen Weg ein aus dem Krieg unversehrt heimgekehrter Franz Marc genommen hätte. Daß es Zeit war, das Tierbild aufzugeben, hat er in den letzten beiden Jahren vor seinem Tod mehrfach geäußert. An der Natur und der Wirklichkeit hätte er aber sicherlich festgehalten, auch wenn von der Abstraktion eine starke Faszination ausging. Am Ende diente sie wohl doch vor allem der Erprobung neuer Formen. 

Maria Marc: „Das Herz droht mir manchmal zu zerspringen“. Mein Leben mit Franz Marc. Siedler, München 2016, gebunden, 192 Seiten, 19,99 Euro