© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/16 / 04. März 2016

Über das Fortleben der kommunistischen Ideologie
Die Verkleidung gewechselt
Lothar Fritze

Mit dem Ende des europäischen Kommunismus schien auch die kommunistische Ideologie endgültig gestorben zu sein. 1989/91 waren nicht nur die politisch-gesellschaftlichen Systeme des einst real gewesenen Sozialismus untergegangen, auch die Protagonisten des Marxismus und seiner verschiedenen Erscheinungsformen hatten mit atemberaubender Geschwindigkeit ihre einstigen Überzeugungen abgelegt. Eine Weltphilosophie, die wie kaum eine andere Hoffnungen und Sehnsüchte von Millionen Menschen entfachte, hatte nicht nur ihre innere Unwahrheit in der Praxis unter Beweis gestellt, sie war vor allem als „Legitimationswissenschaft“ zur Rechtfertigung unsäglicher Verbrechen desavouiert.

Auch wenn man einräumen wird, daß die von Lenin und Stalin geschaffene Sowjetgesellschaft sicherlich nicht den Vorstellungen von Karl Marx und Friedrich Engels entsprach, hatten doch die Bolschewiki genau jenen gesellschaftlichen Zustand hergestellt, den die Gründungsväter des Marxismus im „Kommunistischen Manifest“ als Inbegriff des Kommunismus auffaßten – sie hatten das Privateigentum an Produktionsmitteln abgeschafft (Marx-Engels-Werke [MEW] 4, Seite 475).

Die Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln galt als Voraussetzung der Realisierung der beiden Grundziele des marxistischen Kommunismusentwurfs: der Etablierung einer klassenlosen Gesellschaft sozial Gleichgestellter und der planmäßigen vernunftgemäßen Gestaltung des gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses. Sämtliche Produktion sollte in den Händen der „assoziierten Individuen“ konzentriert sein. An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft sollte jene Assoziation treten, von der es hieß, in ihr werde „die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller“ sein (MEW 4, S. 482).

Das waren große Ziele. Nun weiß allerdings niemand wirklich, welche konkreteren Vorstellungen Marx und Engels mit jener halluzinierten „Assoziation“ eigentlich verbanden; ja, niemand weiß, ob die ihnen vorschwebende Gesellschaft überhaupt auch nur halbwegs klare Konturen hatte. Klar war nur, daß in ihr die Klassen und damit die Existenzbedingung jeder Klassenherrschaft abgeschafft sein sollten und zu diesem Zweck das Privateigentum an Produktionsmitteln aufzuheben war. Insofern wäre „Kommunismus“ die Lehre, die die Aufhebung des persönlichen Eigentums an Produktivvermögen empfiehlt oder prognostiziert.

Die Abschaffung der Klassen sollte jedoch nicht nur zu einer Gleichstellung hinsichtlich des Eigentums an den Produktionsmitteln führen. Darüber hin-aus sollte im reifen Kommunismus jedem, so Marx, ein Zugriff auf die gesell-schaftlichen Konsumtionsfonds „nach seinen Bedürfnissen“ (MEW 19, S. 21) gewährt werden. Mit diesem kommunistischen Verteilungsprinzip ließ Marx in seiner „Kritik des Gothaer Programms“ aus dem Jahre 1875 die ursprüngliche, im „Manifest“ noch als „rohe Gleichmacherei“ kritisierte (MEW 4, S. 489), kommunistische Gleichheitsidee, wie sie unter anderem von Gracchus Babeuf vertreten wurde, wieder aufleben. Er glaubte nunmehr, ein Prinzip vorschlagen zu müssen, das die ungleiche Begabung und Leistungsfähigkeit der Menschen nicht mehr zu einem Maßstab für den individuellen Anteil an den gesellschaftlichen Konsumtionsfonds werden läßt.

Nun mag man unterstellen, Marx sei sich bewußt gewesen – schließlich sollte die Arbeit zum ersten Lebensbedürfnis werden –, daß dieses Verteilungsprinzip eine grundlegende Veränderung der auf dem Boden der kapitalistischen Produktionsweise erzeugten zeitgenössischen Bedürfnisarchitektur voraussetzt. Dies hieße, ihm sei klar gewesen, daß an eine kommunistische Verteilung überhaupt nur dann zu denken ist, wenn sich die Konsumwünsche in einer vernünftigen und nicht extravaganten Weise entwickeln. Doch auch wenn man dies einräumt, wird man sagen müssen, daß die notwendigen Voraussetzungen, die den Kommunismus allererst möglich machen sollen, selbst als unwahrscheinlich zu gelten haben. Damit also ändert sich nichts an dem unrealistischen Charakter dieses Prinzips.

Marx und Engels schreckten auch nicht davor zurück, den Einsatz von Gewalt, den „revolutionären Terrorismus“, den „politischen Mord“ oder einen „ordentlichen Krieg“ als Mittel zur Hervorbringung der neuen Gesellschaft

zu rechtfertigen.

Zwar hatte Engels im „Anti-Dühring“ (geschrieben 1876–78) die Auffassung vertreten, jede Gleichheitsforderung, die über die Forderung nach der Abschaffung der Klassen hinausgeht, verlaufe „notwendig ins Absurde“ (MEW 20, S. 99); gleichwohl waren mit der Formulierung des kommunistischen Verteilungsprinzips illusionäre Erwartungen geweckt worden, die aus der kommunistischen Bewegung nie mehr verschwanden und noch das Programm der SED durchzogen: Die Verteilung sollte in der kommunistischen Zukunftsgesellschaft nach den Bedürfnissen und nicht nach den Leistungen erfolgen, so daß die Bedürfnisse und die auf ihre Befriedigung gerichteten Interessen jedes Menschen gleichermaßen zu berücksichtigen sein werden.

Insofern kann man auch sagen, daß unter „Kommunismus“ jede Idee zu fassen ist, die die Menschen nicht nur sozial gleichstellen will, um Chancengleichheit zu gewährleisten, sondern eine Gleichheit im Ergebnis, im Niveau der Bedürfnisbefriedigung, zu erzielen sucht. Die Gewährung dieses gleichen Ergebnisses soll lediglich an die individuelle Verpflichtung gebunden sein, im Rahmen der eigenen Möglichkeiten einen Beitrag zum gesellschaftlichen Gesamtprodukt zu erbringen.

Obwohl sich also wenigstens Marx zur Festlegung auf dieses Verteilungsprinzip verstieg, lehnten es beide „Klassiker“ hartnäckig ab, konkrete Voraussagen über die Gestaltung der von ihnen vorausgesehenen Zukunftsgesellschaft zu machen. Alle wesentlichen Merkmalsbestimmungen verkörpern dementsprechend Negationen der bürgerlichen Welt und des kapitalistisch-marktwirtschaftlichen Systems. Daraus folgen aber keine Bestimmungen, die bei der institutionellen Konstruktion einer neuen, ganz andersartigen Gesellschaft als Handlungsanweisungen dienen könnten. Es kann daher nicht verwundern, wenn niemand wirklich eine Vorstel-lung davon hat, wie die kommunistische Gesellschaft organisiert sein könnte und ob sie überhaupt zu realisieren, ja, ob sie überhaupt wünschenswert ist.

Trotzdem sprachen Marx und Engels vom Kommunismus in den schillerndsten Farben – er sei „die wahrhafte Auflösung des Widerstreits zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen“, das „aufgelöste Rätsel der Geschichte“, das „sich als diese Lösung [weiß]“ (MEW, EB I, S. 536); sie sahen eine Produktivkraftentwicklung voraus, die „alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen“ lasse (MEW 19, S. 21) und sprachen von einer Gesellschaft, in der „die produktive Arbeit, statt Mittel der Knechtung, Mittel der Befreiung der Menschen wird“ (MEW 20, S. 274).

Und schließlich schreckten die beiden „Klassiker“ auch nicht davor zurück, den Einsatz von Gewalt, den „revolutionären Terrorismus“ (MEW 5, S. 457), den „politische[n] Mord“ (MEW 19, S. 149) oder einen „ordentlichen, frischen, kräftig ausgefochtenen Krieg“ (MEW 10, S. 379) als Motoren des Fortschritts und als Mittel zur Hervorbringung der vorausgesehenen neuen Gesellschaft zu rechtfertigen.

Der Utopismus der sogenannten utopischen Sozialisten besteht denn für Marxisten auch wesentlich darin, die zentrale Bedeutung der Gewalt in der revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft nicht erkannt zu haben. Jene Utopisten formulierten Forderungen nach sozialer Gleichheit als ein vermeintliches Naturrecht des Menschen, verfügten aber nicht, so die marxistische Lehre, über die Kenntnis der erst von Marx und Engels entdeckten objektiven Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung, der historischen Notwendigkeit des Kommunismus und der proletarischen Revolution.

Das kommunistische Verteilungsprinzip lebt in der Verkleidung des moralischen Universalismus fort. Der einzelne habe sich gleichermaßen um die Interessen aller Menschen zu kümmern. Die Konsequenzen dieser Lehre sind heute allenthalben zu beobachten.

Mit dem kommunistischen Verteilungsprinzip hatte Marx für eine Re-Etablierung des ursprünglichen – im „wissenschaftlichen Kommunismus“ angeblich überwundenen – utopischen Gleichheitskommunismus gesorgt, dem man vorwarf, die Elemente der neuen Gesellschaft „aus dem Kopf“ zu konstruieren (MEW 20, S. 247), statt sie aus dem geschichtlichen Prozeß abzuleiten. Das kommunistische Verteilungsprinzip läßt sich jedoch keineswegs ableiten, indem man sich „Rechenschaft“ ablegt von dem, was sich vor den „Augen abspielt“ (MEW 4, S. 143); vielmehr war es Marxens, von Illusionen infiziertem, Kopfe entsprungen und begann nunmehr, ein Eigenleben in den Köpfen ungezählter Adepten zu führen.

Das kommunistische Verteilungsprinzip sollte die Beseitigung aller faktischen Ungleichheit in der Verteilung materieller Güter garantieren, die sich aus unterschiedlichen Talenten und Fähigkeiten, aus Unterschieden der Herkunft, der persönlichen und familiären Lage oder auch aus dem reinen Zufall ergeben. Die Bedürfnisse und Interessen aller sollten unabhängig von aller empirischen Unterschiedlichkeit der einzelnen, einschließlich ihrer unterschiedlichen individuellen Anstrengungen, gleichermaßen Berücksichtigung finden. Dies gilt für jede einzelne Gesellschaft.

Von Anfang an aber war der Kommunismus als ein weltweites Projekt gedacht. Selbst wenn das kommunistische Verteilungsprinzip zunächst in einzelnen Gesellschaften praktiziert würde, erhebt es doch einen globalen Geltungsanspruch – bezieht sich also, vergleichbar der Konzeption der Menschenrechte, auf buchstäblich jeden Menschen.

Man könnte meinen, daß auch diese Idee mit dem faktischen Kollaps des Marxismus obsolet geworden ist; tatsächlich aber lebt sie in anderer Verkleidung fort – nämlich in der Lehre des moralischen Universalismus beziehungsweise einer universellen Nächstenliebe. Dieser Lehre entsprechend, hat sich der einzelne gleichermaßen um die Interessen aller Menschen zu kümmern. Die Realisierung der Interessen aller anderen soll er für genauso wichtig erachten wie die Realisierung seiner eigenen Interessen. Denn eine vernünftige Person, so formuliert es Peter Singer, erkennt, „daß die anderen und ihr Wohlbefinden genauso wichtig sind wie das eigene Wohlergehen“ (Der Spiegel vom 1. August 2015, S. 119).

Aus normativen Überzeugungen entspringen nicht nur moralische Verpflichtungen für das eigene Verhalten, sondern auch normative Forderungen hinsichtlich der Gestaltung der Gesellschaft. Wenn jeder verpflichtet ist, das Wohlergehen jedes anderen Menschen für genauso wichtig zu halten wie das eigene Wohlergehen, dann hat ein jeder vernünftige und anständige Mensch auch entsprechende Forderungen an die Regierung seines Landes und deren politisches Handeln zu stellen. Denn wer die moralische Verpflichtung akzeptiert, zu einem möglichst gleichmäßigen Wohlergehen aller Menschen beizutragen, muß auch wollen, daß seine Gesellschaft und sein Staat sich diesem Ziel verpflichtet wissen.

Aus dem kommunistischen Gleichheitsdenken folgt zunächst Umverteilung innerhalb der eigenen Gesellschaft. Darüber hinaus aber, so ist zu fordern, sollten jedem Menschen auf der Welt nicht nur formal dieselben Menschenrechte, sondern auch jene Bürgerrechte zugebilligt werden, die man selbst als Bürger seines Landes hat.

Dies heißt, jedem wird das Recht eingeräumt, sich in einem Land seiner Wahl niederzulassen, die jeweiligen staatlichen Leistungen zu nutzen und von dem dort geschaffenen Reichtum zu profitieren. Nur durch dieses Anspruchsrecht – weder durch Hilfe in Notsituationen noch durch Entwicklungshilfe – können Ungleichheiten, die aus dem ungleichen Entwicklungsstand der verschiedenen Herkunftsgesellschaften resultieren, vollständig ausgeglichen werden.

Die Folgen dieses Gleichheitsdenkens können bereits heute besichtigt werden. Der Kommunismus schien nur kurze Zeit tot. In Wirklichkeit treibt er in den Hirnen von Utopisten weiterhin sein Unwesen.






Prof. Dr. Lothar Fritze, Jahrgang 1954, Philosoph und Politikwissenschaftler, lehrt als außerplanmäßiger Professor an der TU Chemnitz. Letzte Buchveröffentlichung: „Anatomie des totalitären Denkens. Kommunistische und nationalsozialistische Weltanschauung im Vergleich“ (Olzog, München 2012). Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Universalismus und Partikularismus („Das Eigene bevorzugen“, JF 18/15).

Foto: Demonstration von Linksextremisten in Berlin: Aus dem kommunistisch-ideologischen Gleichheitsdenken folgt die Forderung nach offenen Grenzen und weltweiter Freizügigkeit für die Armen der Dritten Welt