© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/16 / 04. März 2016

Warten auf die Generalweltanbrennung
Konservatismus gegen die „erste Globalisierung“: Neues über den Schlachtenbummler und Modernekritiker Theodor Fontane
Wolfgang Müller

Das schriftstellerische Phänomen Fontane“, so hebt 1950 der dem „klassischen Greis“ (Thomas Mann) gewidmete Essay des Marxisten Georg Lukács an, „ist darum fast einzigartig in der Literaturgeschichte, weil seine entscheidende Produktion mit dem sechzigsten Lebensjahr einsetzt und erst im höchsten Alter von fast achtzig Jahren den Gipfelpunkt erreicht.“   

Spät dran ist der 1898 verstorbene Autor auch mit seiner jüngsten Publikation, für die er, wenn man so sagen darf, 117 Jahre benötigte. Es handelt sich um Reiseskizzen, die 1864 entstanden, als Fontane, den siegreichen preußisch-österreichischen Truppen auf dem Fuße folgend, das geschlagene Königreich Dänemark besuchte. Diese Impressionen erschienen unter anderem in der stramm konservativen Neuen Preußischen Zeitung, der sogenannten Kreuzzeitung, für die der einstige Barrikadenkämpfer von 1848 lange tätig war. 

Unmittelbarer Gewinn der Artikel war ein ministerieller Auftrag, ein offiziöses Werk über den Deutsch-Dänischen Krieg zu verfassen. Es sollte die erste seiner drei dickleibigen Darstellungen daraus werden, mit denen der „Schlachtenbummler“ Fontane die „Einigungskriege“ von 1864, 1866 und 1870/71 als Militärschriftsteller für die „Heimatfront“ aufbereitete. Aus den eigenen Reiseerfahrungen fanden jedoch lediglich seine Erkundungen auf den Schanzen von Missunde an der Schlei, wo am 2. Februar 1864 die erste Schlacht stattfand, Eingang ins Kriegsbuch. 

So blieben die Reportagen des Cot-taschen Morgenblattes für gebildete Leser und der Kreuzzeitung, die er aus Kopenhagen, Roskilde und Städten der jütischen Ostküste mit seinen Schilderungen aus Feindesland versorgt hatte,  „Abfallprodukte“, die Fontane aber für ein „skandinavisches Buch“ sammelte, an dessen Komposition er noch in den 1880ern feilte, das aber ein Torso blieb. 

Landschaft interessiert ihn allein als Geschichtsraum

Der Autographensammler Christian Andree erwarb diese von Fontane angelegte Ausschnitt-Kollektion, seinen „Klebeband“, 1964 auf einer Auktion. Da die maßgeblichen Werk-Ausgaben nur auf die Presseartikel zurückgreifen konnten, arrangierten alle Herausgeber die Texte „willkürlich und nach eigenem Gutdünken“, wie Andree jetzt in der Einleitung zu seiner mit guten Gründen als „Erstveröffentlichung“ eingestuften, um zeitgenössische Illustrationen bereicherten Edition kritisiert.

Der weitgehend bekannte Inhalt der Reiseberichte überrascht die Fontane-Forschung zwar nicht, aber für die Gemeinde des letzten unter den deutschen Autoren des „bürgerlichen Realismus“, der heute noch gelesen wird, ist es doch eine Gelegenheit, dem aus einer südfranzösischen Refugee-Familie stammenden „märkischen Wanderer“ in seine zweite Herzensheimat zu folgen – denn die „Magnetnadel seiner Natur“ wies nach eigenem Bekunden nun einmal „nach Norden“.

Und es war nicht die Landschaft, die ihn dort fesselte. Darum verschmähte er das „Sund-Panorama“, das ihm Helsingör versprach, um geleitet von seinem „historischen Sinn“ nach Roskilde zu eilen. Wie es typisch sentenziös dann heißt, ist ihm das „unbedeutende Städtchen“ selbstredend „nichts“, der Dom mit seinen Königsgräbern, das dänische Westminster, indes „alles“. So gerät die viel Sinn fürs kunsthistorische Detail verratende Beschreibung der „Domkirke“-Architektur schnell zu einem Gang durch die 800 Jahre überspannende Geschichte der dänischen Herrschergeschlechter. In Roskilde ist es mithin wie überall, wohin es den Autor lockt, in Dänemark, in Schottland und England, in der Mark Brandenburg, stets fasziniert ihn Landschaft allein als Geschichtsraum, dessen Potential der politische Journalist Fontane zeit- und kulturkritisch ausschöpft. 

Um dieses eminente Talent, die Tiefendimension der Gegenwart zu erschließen, einmal mehr zu genießen, sollte das Nachwort Andrees freilich ignoriert werden. Denn selbst erklärte Verehrer wie dieser Editor huldigen der Politischen Korrektheit, die das historische Bewußtsein zunehmend verwüstet. So kann nicht ausbleiben, daß Andree seinen Autor ständig moralinsauer benotet, etwa für die Verwendung von in der Völkerpsychologie durchaus üblichen „Stereotypen“, die Fontane übrigens dem Begründer dieser Disziplin, seinem Freund Moritz Lazarus verdankte. Oder Andree mißfallen „nach den Erfahrungen der Nazi-Zeit“ die „nicht mehr akzeptablen“ Kategorisierungen, die Dänemarks „Nordlandmenschen“ als „Race“ einstufen.  

Was sich bei dem eher randständigen Liebhaber Andree allerdings an Schulmeisterei im engsten Rahmen hält, erweist sich bei der opulenten, einschüchternde 800 Seiten umfassenden, alles in allem durchaus als jüngste Spitzenleistung der Fontane-Forschung zu wertenden Arbeit des Konstanzer Literaturwissenschaftlers Gerhart von Graevenitz als extrem störend. Wie ein roter Faden durchzieht nämlich das antipreußische, das gegen den deutschen Nationalstaat gerichtete Ressentiment, das seine akademische Alterskohorte fast vollständig infiziert hat, die Ausführungen des 1944 geborenen Emeritus, der sich unbeirrbar an die Versatzstücke altbundesrepublikanischer Geschichtsideologie wie den „deutschen Sonderweg“ und den politisch vorbildlich progressiven „Westen“ klammert. 

Was sich zwangsläufig erkenntnishemmend auswirkt. Etwa bei dem Versuch, Fontanes ambivalentes Verhältnis zu den „Junkern und Juden“ zu verstehen, der schließlich, nach klugen, erhellenden Einsichten en detail, allen Ernstes mit dem Hinweis auf das kümmerliche Deutungsangebot des „Antisemitismus-Experten“ Wolfgang Benz endet, das bekanntlich maximal ahistorisch alle deutsch-jüdischen Gegensätze auf „Vorurteile“ der Deutschen reduziert. 

Für von Graevenitz ist der „Antisemitismus“ des im Alter mehr und mehr auf „reinliche Scheidung“ setzenden Fontane aber ein Nebenschauplatz seines Unternehmens. Wenn auch kein unbedeutender, da Juden für den „Kreuzzeitungs-Konservatismus“ Fontanes als Repräsentanten der kapitalistischen Moderne galten. Und eben darum soll es bei von Graevenitz gehen: um Fontane und die Moderne, präziser um die Moderne im Stadium der in den 1850ern Preußen-Deutschland erfassenden „ersten Globalisierung“. Man sollte meinen, mit dieser Fragestellung will der Germanist an die Pionierstudie der 1938 nach England emigrierten preußischen Jüdin Charlotte Jolles (1909–2003), der „Miss Marple der Fontane-Forschung“ (Günter Grass) anschließen, die über den „politischen Fontane“ promovierte. Oder an Walter Müller-Seidels bislang nicht übertroffene Monographie über Fontanes „soziale Romankunst“ (1975), die die gesellschaftlichen Spannungen und Konflikte nach der Reichsgründung transparent gemacht habe.  

Kritik am kapitalistischen „Mammonismus“

Doch von Jolles und Müller-Seidel ist hier sowenig die Rede wie von den durch Lukács inspirierten, an Fontanes „Klassenstandpunkt“ interessierten DDR-Exegeten. Von Graevenitz’ Perspektive auf die Globalisierung meint, solche offenbar als provinziell empfundenen Zugriffe hinter sich lassen zu dürfen. Nur gelingt es ihm nicht einmal, sein Thema präzise zu formulieren und Erkenntnisziele abzustecken. Daher zerfällt die Arbeit in ein Dutzend Untersuchungsäste, die ihrerseits zahllose Seitentriebe ausbilden. Es bleibt deshalb der Phantasie des Lesers überlassen, sich einen Pfad in diesem Ideendickicht zu bahnen.  

Immerhin gibt die Methode, mit der von Graevenitz die traditionelle Textanalyse mit der modischen Germanistik als „Bildwissenschaft“ verbindet, eine Richtung vor auf den durch die Industrialisierung bedingten Wandel der „Denk- und Sehkultur“, der „imaginären Ordnungen“. Diese wurden von Fontane literarisch, vom befreundeten Adolph von Menzel, der von der „Heroisierung“ Friedrichs des Großen zur Visualisierung härtester Industriearbeit in seinem Kolossalgemälde „Das Eisenwalzwerk“ (1872–1875) fortschritt, neu entworfen. Dazu liefert der Verfasser brillante Analysen wie die zu Fontanes Ballade „Die Brück’ am Tay“. 

Der Dichter habe zuvor schon seine Balladenkunst für „moderne, industrielle Stoffe“ geöffnet wie die Kriege des britischen Weltreiches („Das Trauerspiel von Afghanistan“, 1859). 1879 nahm er sich dann kritisch die Bahnkatastrophe von Dundee vor, der 200 Menschen zum Opfer fielen. In der Tay-Ballade zerstört ein Orkan eine schottische Eisenbahnbrücke. Technik und Kultur, so lautet die Botschaft, seien den Naturgewalten nicht gewachsen. Tatsächlich machte, was Fontane nicht bekannt war, Pfusch am Bau, verursacht durch Profitgier, dem „Tand aus Menschenhand“ ein Ende. Der Ruhm der britischen Ingenieurkunst sei bei Dundee zerbröselt. 

Warum von Graevenitz hier abbricht, um sich erst viele Kapitel später wieder Fontanes Auseinandersetzung mit dem kapitalistischen „Mammonismus“  zu widmen, ist unverständlich. Laut Fontane verfiel seit 1871 selbst der preußische Adel genauso wie seine publizistische Leibgarde, die von ihm als intellektuell inferior verachteten Kollegen des Kreuzzeitungs-Journalismus, dieser „niedrigsten Form menschlichen Daseins“. Dennoch bleibt unklar, warum der alte Fontane die adlige Führungsschicht Preußens 1895 für historisch erledigt, daher nicht das deutsche Kaiserreich, sondern den sozialdemokratisch formierten „vierten Stand“ für allein zukunftsfähig hielt und er mit der weltrevolutionären „Generalweltanbrennung“ rechnete. 

Das ist jedoch nur eine von vielen bloß angerissenen Fragen. Am meisten ist zu bedauern, daß im dunkeln bleibt, was von Graevenitz unter der titelgebenden „ängstlichen Moderne“ begreift. Zumal er selbst einräumt, die allgegenwärtige Daseinsangst, sofern nicht überhaupt eine anthropologische „Grundbefindlichkeit des Seins zum Tode“ (Martin Heidegger), sei allenfalls ein Spezifikum der zweiten, aktuell vollstreckten „negativen Globalisierung“, nicht der ersten, als dem im Bismarck-Reich aufgebauten Wohlfahrtsstaat das management of fear leidlich gelang.

Christian Andree (Hrsg.): Theodor Fontane. Mein skandinavisches Buch – Reisen durch Dänemark, Jütland und Schleswig. Olms Verlag, Hildesheim 2015, gebunden, 178 Seiten, Abbildungen, 49,80 Euro

Gerhart von Graevenitz: Theodor Fontane: Ängstliche Moderne. Über das Imaginäre. Konstanz University Press, Konstanz 2014, gebunden, 818 Seiten, Abbildungen, 29,90 Euro