© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/16 / 04. März 2016

Drei Großversuche der Hegemonie
Wjatscheslaw Daschitschew über hundert Jahre Weltmachtambitionen und ihr Scheitern
Klaus Hornung

Wjatscheslaw Daschitschews verdienstvolles Wirken für die Überwindung des Kalten Krieges und für die deutsche Einheit als Berater Michail Gorbatschows ist in Deutschland wenig bekannt. Er hat darüber ein aufschlußreiches Buch geschrieben: „Moskaus Griff nach der Weltmacht – Die bitteren Früchte hegemonialer Politik“ (2002). Das vorliegende Buch setzt seinen Rechenschaftsbericht bis zur Ära Putin fort. Daschitschew war nicht nur ein Akteur der Zeitgeschichte, sondern auch ein produktiver Wissenschaftler. 1925 wurde er als Sohn eines Generals der Sowjetarmee geboren, den Stalin wie auch andere Spitzengeneräle 1941 mit dem Vorwurf absetzte, für das Vordringen der Deutschen bis an die Peripherie Moskaus verantwortlich zu sein, und sie ins Gefängnis warf. 

Warnung an Deutschland vor Humanitarismus-Politik

Von 1943 bis 1945 nahm Daschitschew am Krieg als Offizier teil und studierte dann Geschichte und Militärgeschichte. Seine erste große Arbeit befaßte sich mit Hitlers Militärstrategie im Frankreichfeldzug 1940. Dabei lernte er auch das „andere Deutschland“, den militärischen Widerstand gegen Hitlers totalitäres System und besonders General Ludwig Beck als Repräsentanten einer angesehenen deutschen Militärtradition kennen. In den siebziger Jahren stieg Daschitschew zum Leiter der außenpolitischen Abteilung des „Instituts für die Wirtschaft des sozialistischen Weltsystems“ und damit in die Akademie der Wissenschaften auf. Hier verfaßte er schon 1979 ein Memorandum für die Parteiführung Leonid Breschnews, in dem er die imperialistische Politik der Sowjetunion als Ursache ihrer Schwäche im Systemwettbewerb einer entschiedenen Kritik unterzog und das Ende des Ost-West-Konflikts forderte. 

Weitere kritische Stellungnahmen für Außenminister Andrej Gromyko und den Parteichef Juri Andropow (1982) folgten. Erst als im März 1985 Michail Gorbatschow Parteichef wurde, fanden Daschitschews Vorschläge zunehmend Gehör. Der Kalte Krieg sollte beendet werden, weil er die Sowjetunion zunehmend überlastete, und dabei spielte die Überwindung der deutschen Teilung eine Schlüsselrolle. Gegen die Widerstände der Sowjetnomenklatura wurde Daschitschew zu einem der Wegbereiter der deutschen Einheit in der Gorbatschow-Führung, was ihm der damalige deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher unumwunden zuerkannte und nicht zuletzt seinen Mut in der Auseinandersetzung mit den noch Herrschenden in der Sowjetära hervorhob.

 Mit dem späteren Reformkurs der Jelzin-Ära im Zeichen einer „Schocktherapie“ zur Umwandlung der sowjetischen Zentral- und Kommandowirtschaft in eine Marktwirtschaft auf der Grundlage des Privateigentums begann für Rußland ein Jahrzehnt bitterer Früchte einer fehllaufenden Reform. Es entstand eine neue Herrschaftsschicht von Profiteuren der Reformen, der sogenannten „Oligarchen“, die ihre Milliardengewinne aus der „Privatisierung“ auf Konten westlicher Banken deponierten, anstatt sie in die notwendige industrielle Modernisierung des Landes zu investieren, während weite Bevölkerungsteile in Armut abstiegen. Das Bruttoinlandsprodukt sank, Bildungswesen, Gesundheitssystem, Wissenschaft und Forschung erlebten einen bedrückenden Niedergang. 

Daran hatten nicht zuletzt die Vereinigten Staaten ihren Anteil, die im Zeichen der „Kooperation“ und der Hilfe für die russischen Reformen mit großzügigen Krediten und Hunderten von oft zweifelhaften Beratern verdeckte Formen einer robusten Hegemonialpolitik gegen den geschwächten Rivalen betrieben. Die jetzt „einzige Weltmacht“ (Zbigniew Brzezinski) setzte auch gegenüber Rußland ihre hegemoniale Tradition fort, die bald darauf mit den Militär-interventionen gegen Afghanistan und den Irak (2003) einen neuen Höhepunkt erreichen sollte.

Daschitschews Werk stellt eine auch für deutsche und europäische Leser eigenständige Analyse und Deutung der Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts dar. Für den Autor ist die Epoche von drei Großversuchen geprägt, die er durch eine messianisch-hegemoniale Politik gekennzeichnet sieht. Zwei von ihnen, Hitlers Nationalsozialismus und der Sowjetkommunismus Lenins und Stalins sind durch ihre totalitäre Hybris in Katastrophen gescheitert und im Abgrund der Geschichte versunken. Der dritte Großversuch, der amerikanische unter dem Antrieb eines messianischen, säkular-religiösen Verständnisses der „Menschenrechte“ befindet sich in unseren Tagen in der Krise und im Abstieg. 

Den dritten Teil des Buches widmet der Autor nochmals Rußland in der Ära Putin. Sein Fazit ist hier der eindrückliche Appell, dessen gegenwärtigen vielfach neoliberalen Kurs zu korrigieren und eine Politik entschiedener Erneuerung Rußlands im Zeichen seiner genossenschaftlichen, gemeinwohlorientierten Tradition und Kultur zu führen. Für dieses Programm ruft er die beiden bedeutsamsten Namen der jüngsten russischen Geistesgeschichte auf, Alexander Solschenizyn und Nikolai Berdjajew, ein Programm, das Hand in Hand gehen muß mit dem Neuaufbau einer ausgewogenen Industriebasis und der technologischen Modernisierung Rußlands, anstatt vor allem als internationales Rohstofflager zu dienen.

Die Europäer und die Deutschen fordert Daschitschew auf, den hegemonialen Kurs der finanzpolitischen Machtelite der USA nicht zu unterstützen, was die realpolitische Zusammenarbeit zur Abwehr der weltpolitischen Bedrohungen Europas und Amerikas nicht ausschließt. Den Deutschen zumal empfiehlt der Autor, aus den Erfahrungen mit der totalitären Diktatur Hitlers nicht den fundamentalen Fehlschluß zu ziehen, heute sei ein weltfremder, messianisch überhöhter Humanitarismus die einzig vernünftige und angemessene Option der Politik.

Wjatscheslaw Daschitschew: Von Stalin zu Putin. Auf der Suche nach Alternativen zur Gewalt- und Herrschaftspolitik. Rußland auf dem Prüfstand. Ares Verlag, Graz 2015, gebunden, 508 Seiten, Abb., 69,90 Euro