© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/16 / 04. März 2016

Putinversteher aus dem Bauch heraus
Der Unternehmer Walther Seinsch beklagt die Dämonisierung von Putins Rußland in den deutschen Medien
Thomas Fasbender

Noch ein Buch, das den russischen Präsidenten als Dämon zeichnet? Mitnichten. „Über die Putin-Phobie des Westens“, heißt es im Untertitel. Was folgt, ist eine Chronik der Empörung, die zum weitaus überwiegenden Teil aus Zitaten besteht, weniger aus der Feder des Autors. Für Walther Seinsch, Arbeiter, Unternehmer und 14 Jahre lang Chef des FC Augsburg, sind die Zitate Kronzeugen des neokonservativen, auf die Interessen der USA, der Transatlantiker und ihrer Klientel ausgerichteten Rußlandbilds, wie es die deutschen Medien vermitteln.

Mit der Einschätzung steht Seinsch nicht allein. In ihrem Bestseller „Wir sind die Guten“ zielen Mathias Bröckers und Paul Schreyer in die gleiche Richtung. Daß die deutschen Medien, vor allem die öffentlich-rechtlichen Anstalten, spätestens seit der Verhaftung des Öl-Tycoons Michail Chodorkowski 2003 zum überwiegenden Teil einseitig, gefärbt, tendenziös und seit Ausbruch des Ukraine-Konflikts auch hemmungslos parteiisch berichten, pfeifen diesseits der Medien- und Politikerelite – mit Ausnahme der Linken – die Spatzen von allen Dächern. Nicht ohne Grund sind die Online-Ableger der betreffenden Organe dazu übergegangen, ihre Kommentarfunktion bei Beiträgen mit Rußlandbezug in der Regel abzuschalten.

Seinsch bewundert den russischen Weg insgeheim

Die Wurzeln der anhaltenden Medienschelte verortet Seinsch in der Abkehr Rußlands, seiner Gesellschaft und Elite, vom vermeintlichen Liberalismus der Ära Jelzin bald nach Putins Machtantritt 2000. Kenner können dem beipflichten; dort liegt auch der Kern der Entfremdung vom Westen. Die Jelzin-Jahre waren die Zeit der ausländischen Bestrebungen, das neue Rußland mit viel Geld, Energie und Zuwendung in das wirtschaftlich-weltanschauliche Gebilde „Westen“ zu überführen. Daß diese Integration gescheitert ist, trägt die bundesrepublikanische Elite dem großen, alten Freund-Feind im Osten geradezu verbissen nach. Schließlich herrscht hierzulande die Überzeugung, Deutschland habe nach dem Scheitern seiner eigenen staatlichen und gesellschaftlichen Identität in jahrzehntelanger Bewältigungsarbeit Musterhaftes geleistet – und die Bundesrepublik könne dem neuen Rußland also nur Vorbild sein.

Seinsch ist ein Pragmatiker. Sein Buch belegt, wie hilfreich Bauch und Herz bei der Bewertung politischer Zusammenhänge sind. Immer wieder scheint durch, wie er an Rußland bewundert, daß es einen anderen Weg als den deutschen gehen will. Die Klugen und Gebildeten hierzulande verweisen in großer Mehrheit auf unseren Wohlstand, die Westintegration und das Wirtschaftswachstum der Nachkriegsjahrzehnte als einzigartige Erfolgsstory. Es ist der Stammtisch, an dem man den Bauchmenschen begegnet, die uns mit ernster Stimme erinnern: Die Probe aufs Exempel steht noch aus.

Inzwischen, in Zeiten des offen eingestandenen westlich-russischen Informations- und Propagandakriegs, behauptet selbst in den Staatsmedien kaum noch jemand, man berichte objektiv oder gar äquidistant. Das ist ein Schritt in Richtung Wahrheit. Wer die Korrespondenten vor Ort kennt, weiß zudem, daß sie ihr Fähnchen nach dem Wind hängen müssen. Das ist der Preis der attraktiven Position. Schade ist, daß Seinsch sich immer wieder Kerstin Holm vornimmt, die Rußland-Korrespondentin des FAZ-Feuilletons. Vor Jahren waren ihre politischen Berichte Spiegel des Mainstreams – seit Beginn der Ukrainekrise gehört Holm aber zu den wenigen Stimmen, die erkennen, daß unser Verlust aus der west-östlichen Entfremdung um keinen Deut geringer ist als der der anderen Seite.

In formaler Hinsicht wäre ein saubereres Lektorat wünschenswert gewesen. Mitunter fällt es schwer, Autorentext und Zitate auseinanderzuhalten; sehr viele Quellenangaben sind unvollständig. Für jemanden, der immer noch behauptet, die Rußland-Berichterstattung der deutschen Medien sei ausgewogen und objektiv, ist das Buch dennoch das passende Geschenk.

Walther Seinsch: Wladimir Putin – Der Dämon? Gerhard Hess Verlag, Bad Schussenried 2015, broschiert, 224 Seiten, 16,90 Euro