© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/16 / 11. März 2016

In stürzenden Reichen
Gesellschaftskritik aus dem Geist des aufgeklärten Humanismus: 1916 starb Marie von Ebner-Eschenbach
Oliver Busch

Als einzige Frau Österreichs erhielt Marie von Ebner-Eschenbach aus der Hand ihres Kaisers 1899 das Ehrenzeichen für Kunst und Wissenschaft. Zum 70. Geburtstag im September 1900 folgten das gleichfalls noch nie einer Frau verliehene Ehrendoktorat der Wiener Philosophischen Fakultät sowie die von zehntausend Wienerinnen unterschriebene, der „großen Dichterin und Kennerin des weiblichen Herzens“ gewidmete Dankadresse. Und vollends zum öffentlichen Ereignis geriet Ebner-Eschenbachs 80. Geburtstag, als auf ihrem südmährischen Landsitz Zdislawitz der Strom der Telegramme, Briefe und Festschriften nicht abreißen wollte.

Doch gerade dieser letzte Lebensabschnitt, als ihr Ruhm europäische Ausmaße gewann, war überschattet von Krankheit und Tod, von vielen schmerzlichen persönlichen Verlusten, dem ihres Mannes nach 50jähriger, kinderloser Ehe, dem von Geschwistern und engen Freunden. Mit dem Kriegsausbruch im August 1914 kam nicht nur die Sorge um jüngere Verwandte im Fronteinsatz hinzu, sondern die sich schon lange als „geistig und physisch ohnmächtige Greisin“ fühlende Schriftstellerin erlebte in der kurzen Frist, die ihr bis zu ihrem Tod am 12. März 1916 noch vergönnt war, den Beginn des rasanten Untergangs ihrer Welt, des Habsburgerreiches und seiner Führungsschicht, der Hocharistokratie, der sie entstammte. Der Tod des nur vier Wochen älteren Kaisers Franz Joseph I. im November 1916, nach 68 Jahren auf dem Thron, schloß dann eine Epoche ab, für die die Biographien von Monarch und Dichterin gleichermaßen repräsentativ sind.

Allerdings sah es bei der jungen Gräfin Dubsky, die 1848 ihren Vetter Moritz von Ebner-Eschenbach geheiratet hatte, zunächst überhaupt nicht danach aus, jemals aus der Anonymität privaten Daseins heraustreten zu können. An Ehrgeiz mangelte es zwar nicht. Denn schon als Backfisch träumte sie davon, ihr möge als weiblicher Shakespeare die Wiederbelebung des deutschen Dramas gelingen. Indes scheinen – ein von der Gender-Forschung noch zu lösendes Rätsel – Frauen kein dramatisches Talent zu besitzen, jedenfalls verzeichnen die Annalen der Weltliteratur keines. Deshalb fehlt darin auch der Name Ebner-Eschenbach, da die von der Kritik beharrlich ungalant geschmähte Baronin nach 25jähriger, mit großen historischen Stoffen, Maria Stuart, Richelieu, Marie Roland, ringender, erfolgloser Quälerei 1870 aufgab und beschloß, ins Prosa-Fach zu wechseln.

Die Zerklüftungen im Vielvölkerstaat abgebildet

Mit den Erzählungen aus dem ihr vertrauten Milieu, mit „Dorf- und Schloßgeschichten“, lief es entschieden besser. An die Stelle namhafter Exponenten schlecht dramatisierter Haupt- und Staatsaktionen trat nun ein gelungenes, spätrealistisches Erzählwerk, bevölkert mit Dienstmädchen, Handwerkern, Wilddieben, Bauern, Bürgern und hohlen Edelleuten, ein cisleithanischer „Plutarch der Unberühmten“ (Bruno Bettelheim). Wer meint, aufgrund dieses Personals und mancher Titel wie „Komtesse Paula“ (1885), „Die Unverstandene auf dem Dorfe“ (1886) oder „Lotti, die Uhrmacherin“ (1889), assoziiert mit den Altersporträts der behäbige Matronenhaftigkeit ausstrahlenden Autorin, einer habsburgischen Courths-Mahler zu begegnen, ist auf dem Holzweg. 

Die Realistin Marie von Ebner-Eschenbach stiftet keine Verblendungszusammenhänge. Sie bildet die sozialen, ökonomischen und ethnischen Zerklüftungen im Vielvölkerstaat der Doppelmonarchie so präzise ab wie die Freidenkerin George Eliot (1819–1880) die Auswirkungen des Manchesterkapitalismus auf das englische Bauern- und Kleinbürgertum. Und wie Theodor Fontane die kulturelle Genügsamkeit („Fuchsjagd, Sonntagspredigt und jeu“) seinem unglücklich geliebten preußischen Adel ankreidet, wird Ebner-Eschenbach nicht müde, die grauenhafte Oberflächlichkeit ihrer Kreise zu attackieren, weil sie darin die Ursache für die Unfähigkeit der aristokratischen Führungselite sieht, das seit den 1880ern innenpolitisch zerrissene, außenpolitisch bedrohte Reich zu reformieren und zu stabilisieren. Auf die Unbildung vieler ihrer Standesgenossen zielt der am meisten zitierte ihrer scharfsinnigen Aphorismen: „Wer nichts weiß, muß alles glauben.“ 

Mit ihrer Adels- und Sozialkritik wurzelt die Katholikin Ebner-Eschenbach in der josephinischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts, die in Österreich so etwas wie die Französische Revolution verhinderte. Aber die Geschichte wiederholt sich eher selten, so daß der in ihren Texten literarisch umgesetzte Rationalismus der Aufklärungstradition, bei ihr ergänzt durch die Humanitätsideale der deutschen Klassik und beseelt von heftigem pädagogischen Furor, nicht den erstrebten Bewußtseinswandel auslöste und damit nichts änderte am Untergangsschicksal ihres Habsburgerreiches.