© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/16 / 11. März 2016

„Wir hätten damit gar nicht anfangen dürfen“
Fünf Jahre Fukushima: Renaissance der Atomkraft oder Startsignal für den Einstieg in den globalen Ausstieg
Christoph Keller

Fünf Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima am 11. März 2011 und dreißig Jahre nach der Kernschmelze im sowjetischen AKW Tschernobyl glaubt der Wissenschaftsjournalist Horst Hamm eine beunruhigende „Renaissance der Atomkraft“ ausmachen zu können (Natur, 2/16). Hamms Befürchtungen nähren Äußerungen von Yukiya Amano, dem Generalsekretär der Internationalen Atom­energiebehörde (IAEA): Der frankophile japanische Diplomat wirbt weiter unverdrossen für die Nutzung von Kernkraft.

Folgeschäden von bis zu 360 Milliarden Euro?

Der Anteil der Atomenergie an der globalen Stromerzeugung werde aufgrund chinesischer Neubauprojekte bis 2030 wieder kräftig expandieren. Derzeit arbeiteten 438 Atommeiler in 30 Ländern. 67 AKW seien im Bau, die meisten in Asien. In Japan ging im August 2015 Block 1 des AKW Sendai erneut ans Netz, im Oktober folgte Block 2. Im Januar wurde Block 3 von Takahama reaktiviert, am 27. Februar Block 4. Weitere 15 AKW mit über 40 Reaktoren harren noch ihrer Auferstehung. All das könnte, wie von Agneta Rising, der Generaldirektorin der britischen World Nuclear Association, erwartet, die Erzeugung von Atomstrom bis 2022 mit einer Rasanz ansteigen lassen, „wie wir sie 20 Jahre lang nicht mehr gesehen haben“.

Die derzeitige Regierung von Shinzo Abe in Japan revidierte zwar den Atomausstiegsbeschluß von 2012, doch ein von Hamm mit Aileen Mioko Smith geführtes Interview spricht kaum für ein „Hochfahren“ auf breiter AKW-Front. 70 Prozent der Japaner ängstigt die Aussicht auf ein zweites Fukushima, 80 Prozent wollen nach Angaben der Geschäftsführerin von Green Action Japan den baldigen Rückzug aus der Hochrisiko-Technologie. Die Fukushima-Betreiberfirma Tepco habe die havarierten Reaktoren bis heute täglich mit Hunderten von Tonnen Wasser kühlen müssen. Viele der 160.000 im März 2011 evakuierten Japaner, die im Umkreis der Reaktoren wohnten, leben nach wie vor in Notunterkünften. Schon dies lasse keinerlei Stimmungswandel zugunsten einer Kernkraft-Renaissance zu.

Der Widerstand werde sich eher noch versteifen, wenn sich, bei einer relativ hohen Strahlenbelastung von bis zu 20 Millisievert im Jahr, die für 2017 geplante Rückkehr der Evakuierten in ihre Häuser als verfrüht erweise, oder wenn die Kosten für die Dekontaminierung großer Flächen, für die Entschädigung der Bauern und Fischer, für den Kauf verstrahlten Landes, nicht avisierte 36, sondern schwindelerregende 360 Milliarden Euro betragen würden.

Fragwürdig erscheint Hamms These, daß nicht sinkende Preise für Öl, Kohle oder Gas, sondern die deutsche Energiewende die Atomeuphorie dämpfe. In nicht weniger als 69 Ländern, so rechnet Hamm vor, hätten erneuerbare Energien „einen beispiellosen Siegeszug angetreten“. Selbst China, wo sich 24 neue Meiler im Bau befinden, investiere inzwischen neunmal mehr Geld in Erneuerbare als in Atomenergie. Frankreich habe im Juli 2015 ein Gesetz über die nationale Energiewende beschlossen, das bis 2025 anpeilt, den Anteil von Atomstrom von 75 auf 50 Prozent zu reduzieren und bis 2030 vierzig Prozent der Stromversorgung durch Wind, Sonne und Biomasse zu erzeugen: „Eine Richtungsentscheidung, die noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen wäre.“ 

Frankreich folge mit letzterem dem europäischen Trend. In der EU wuchs die Stromproduktion aus Sonnenenergie zwischen 1997 und 2014 auf 98, die aus Windkraft auf 242 Terrawattstunden (TWh). Gleichzeitig ging die Leistung der Atomkraftwerke auf 47 TWh zurückging. Daß bei Nacht oder Windflauten Öl- und Gaskraftwerke einspringen müssen, verdrängt Hamm. Weltweit verminderte sich der Anteil der Atomenergie an der Stromversorgung seit 1996 von 18 auf elf Prozent.

Man müsse kein Mathematiker sein, um zu berechnen, wie die katastrophale volkswirtschaftliche Bilanz atomarer Stromgewinnung diesen Schrumpfungsprozeß fortsetze. Schon heute koste Windstrom weniger als zehn Cent pro Kilowattstunde – Tendenz fallend. Hingegen soll der Atomstrom von zwei auf 3.260 Megawatt ausgelegten Druckwasserreaktoren, die ein britisch-französisches Konsortium an der englischen Südwestküste für 30 Milliarden Euro errichten wollen, mindestens 11,2 Cent kosten (JF 45/13). Im letzten der auf 35 Jahre vereinbarten ansteigenden Vergütungsgarantie für Hinkley Point wären es 35 Cent – bei einer unterstellten Inflationsrate von zwei Prozent. Solche Szenarien stimmen eher auf ein Requiem für die Atomenergie ein.

Steuerzahler bei Abbau und Endlagerung in der Pflicht

Für Leser, die sich von nüchternen Zahlen nicht beeindrucken lassen, fügt Hamm ein Gespräch an, das er mit Jörg Sommer, dem Chef der größten und ältesten deutschen Bürgerstiftung, der Deutschen Umweltstiftung, vor der trostlosen Kühlturmkulisse des AKW Grundremmingen führte. Thema des von Abluftschwaden umwehten und vom Sicherheitspersonal mißtrauisch beäugten „Spaziergangs“ war eines der Themen, das deutsche Atomkraftbefürworter gern ausblenden: die Endlagerung.

Sommer, als Mitglied der vom Bundestag eingesetzten „Kommission Lagerung hochaktiver Abfallstoffe“, gibt dazu Niederschmetterndes zu Protokoll. 30.000 Tonnen hochradioaktiven und 300.000 Tonnen schwach- sowie mittelradioaktiven Atommülls gelte es zu entsorgen. Bis dafür ein funktionierendes Endlager aufnahmebereit sei, vergingen noch 30 bis 60 Jahre. An einem Ort, den bisher niemand kenne, da er „politisch einvernehmlich“ schwer zu bestimmen sei. Fest stehe nur, daß Bürger nirgendwo mehrheitlich einer Standortwahl zustimmen werden. Und fest stehe ebenso, daß die 38,3 Milliarden Euro, die die Stromkonzerne für AKW-Rückbau und Endlagerung zurückgestellt hätten, angesichts von erwarteten Kosten von mindestens 80 Milliarden Euro nicht reichen: „Wir kommen in finanzielle Größenordnungen, die gar nicht mehr kalkulierbar sind.“ Sprich: der deutsche Steuerzahler muß letztlich bluten. Eigentlich sei das Projekt „sicheres Endlager“ unlösbar, so daß Sommers resignatives Fazit lautet: „Wir hätten mit dieser Technologie gar nicht anfangen dürfen.“