© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/16 / 11. März 2016

Pure Bionade aus der Natur
Anleitung zum Birkensaftzapfen: Ein lange vergessenes Getränk ist wieder im Kommen
Christian Rudolf

Vom Eise befreit sind Strom und Bäche – langsam, langsam wird es Frühling. Die Natur beginnt wieder, sich sichtbar zu regen und uns mit ihren Gaben zu beschenken. Das ist die Zeit des Safttriebs, in der wir in unseren Laubwäldern einem uralten heimischen Brauch nachgehen können: dem Abzapfen von Birkensaft (Succus Betulae). Was in Ost- und Nordeuropa ganz selbstverständlich praktiziert wird, ist bei uns wie so vieles im Laufe des 20. Jahrhunderts in Vergessenheit geraten. Zu Unrecht: Der leicht süßliche Gesundheitstrank wurde schon bei den alten Germanen geschätzt, und der nahrhafte und heilende Spenderbaum stand im Volksglauben der Germanen und Slawen in hohem Ansehen. In Rußland gilt die hellschimmernde, schlanke Birke als Herrin des Waldes. Bis in unsere Tage hat sich ein Nachklang dieser Wertschätzung im Brauchtum erhalten: Als Maibaum kündet die Birke in vielen Gegenden vom Frühling.

In Nordosteuropa verbreitet wie bei uns Orangensaft

Brechen wir also auf in den Wald! Wer am frühen Vormittag losmarschiert, wird schon abends den Durst löschen können. Die Prozedur, die uns erwartet, ist kinderleicht, und wir lernen wie beim Beeren- und Pilzesammeln die Natur besser kennen. Wenn wir Taschen- oder Fahrtenmesser eingesteckt und ein großes Einweckglas oder eine leere Flasche in den Rucksack gepackt haben sowie ein Knäuel kräftigen Bindfadens, sind wir gut gerüstet. Im Frühjahr schießen der Birke die Säfte nach oben und sorgen dafür, daß die Knospen aufgehen und sich das Blattwerk entfalten kann. Wenn das geschehen ist, verringert der Baum den Saftstrom auch schon wieder – und wir gingen leer aus.

Allgemein wird zwischen Februar und April/Anfang Mai gezapft. Vor vier Wochen war in Norddeutschland die Saftzeit allerdings noch nicht angebrochen. Ob es dieser Tage soweit ist, läßt sich einfach prüfen, denn die Birke gibt uns Zeichen: Wenn es frostfrei ist, greife man nach einem ihrer Zweiglein und beobachte. Haben sich die Knospen schon von allein geöffnet, sind wir richtig. Falls noch nicht, schneide man eine Knospe auf. Sitzt innen kräftiges frisches Grün, strömen die Säfte bereits.

Die Birke bildet als schnellwachsender Flachwurzler einen großen Wurzelteppich flach unter der Erde aus, der anderen Pflanzen das Regenwasser wegsaugt. Sie nimmt damit soviel Wasser auf wie kaum ein anderer Baum: Mehr als hundert Liter am Tag transportiert das Splintholz des Stammes bis in die hohe Krone. Auf diesen besonderen Saft haben wir es abgesehen: Er enthält die in den Wurzeln gespeicherten wertvollen Nährstoffe.

Mit dem Taschenmesser schneiden wir irgendwo ein Ästchen zwischen fünf und zehn Zentimeter Läge ab und entfernen die Rinde. Dann schnitzen wir ein Ende flach zurecht, daß so etwas wie ein kleiner Spatel entsteht, und legen es sorgsam beiseite. Wiederum mit dem Messer pieken wir den Stamm einer Birke kräftig und leicht schräg von unten an – vielleicht zwei Zentimeter tief. Kenner wählen eine Stelle, an der nicht knorrige Borke, sondern die pergamentdünne, charakteristische weißliche Rinde den Baum schützt. Eine Höhe von einem dreiviertel bis zu einem Meter über dem Waldboden eignet sich gut.

Nach wenigen Augenblicken treten Tröpfchen hervor und perlen den Stamm herab. Rasch greifen wir nach dem vorbereiteten Spatel und arretieren ihn vorsichtig, daß er nicht bricht, so in der Kerbe, daß sein freies Ende ebenfalls leicht nach unten neigt. Haben wir den Winkel gut getroffen, rinnt alsbald Tropfen für Tropfen an ihm hinunter – ein natürlicher Zapfhahn. Die große Öffnung des bereitgestellten Einweckglases direkt unter unserer Birkensafttankstelle zu plazieren ist nun nicht mehr schwierig. Wenn man den Bindfaden um die verjüngte Stelle knapp unter dem Rand des Glases entlangführt, verhindert man ein eventuelles Abrutschen des Behältnisses, das selbst bei sonst festester mehrmaliger Wickelung des Fadens um den Stamm nicht ganz auszuschließen wäre.

Ganz Pfiffige zapfen dieselbe Birke einfach an der gegenüberliegenden Seite nochmals an und verdoppeln den Ertrag. Für eine andere Methode haben wir die Flasche mitgebracht: Wir biegen uns einen niedrig wachsenden Ast herab und schneiden dessen Endstück ab. Auf die verletzte Stelle pfropft man die Flasche und fängt in ihr das Wasser auf. Da dieses Verfahren ein wenig Geschicklichkeit erfordert, ist es mehr etwas für im Umgang mit der Birke Geübte.

Der Lohn der geringen Mühe wartet am Abend: eine frische, zuckerarme „Bionade“ aus der Natur. Mehr öko geht nicht. Um die kleine Wunde im Stamm braucht man sich nicht zu sorgen. Man drückt die Rinde einfach mit dem Daumen wieder an. Der Baum weiß sich zu helfen: Dessen Selbstheilungskräfte schwemmen Krankheitserreger hinaus.

Die Zusammensetzung des Saftes ist mittlerweile gut erforscht. Vitamine, Spurenelemente und Mineralstoffe wie Kalzium, Magnesium, Natrium und etwas Fruktose stecken drin. Der feinsüßliche Geschmack kommt vom Xylit, einem natürlichen Zuckeraustauschstoff. Den Trank kennt die Volksmedizin seit alters her als Mittel zur Stärkung des Immunsystems und gegen die Frühjahrsmüdigkeit, zur Linderung von Magenreizungen, Kopfschmerzen, Gicht und Rheumatismus, zur Entwässerung und Entschlackung. In Skandinavien, dem Baltikum, der Ukraine, Weißrußland und Rußland, aber auch in Alaska ist er so gängig wie bei uns Orangensaft. Auf Märkten bieten ihn Landwirte frisch in Gurkengläsern oder Plastikflaschen feil, in Lebensmittelgeschäften bekommt man ihn haltbar im Tetrapack. In Deutschland hatte sich das Naturprodukt in der Breite nur mehr als Haarwasser erhalten. Eine kleine Renaissance erlebt der Saft derzeit als Spartengetränk im Zuge der Vegan- und Fitneßwelle. Auf Netzseiten für Kraftsportler wird er als hochpreisiges Wunderprodukt vermarktet. Wetten, daß selbstgezapft besser schmeckt?