© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/16 / 18. März 2016

Abschottung von der Realität
Landtagswahlen: Mit Durchhalteparolen versuchen in Berlin Politiker von Union und SPD, die Niederlagen schönzureden
Paul Rosen

Eigentlich wäre Montag ein guter Tag für große Rücktritte gewesen. Die Volkspartei SPD ist nach den drei Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt so gut wie Geschichte, die CDU zerbröselt, und rechts von ihr erblüht die AfD, was nach der von Franz Josef Strauß ausgegebenen Devise „Rechts von der Union darf es keine demokratisch legitimierte Partei geben“ nie hätte passieren dürfen. Die Bindungskräfte der bisherigen Volksparteien schwinden in atemberaubendem Tempo. Man muß schon ein großes Maß an Selbstverleugnung an den Tag legen, um wie Bundeskanzlerin Angela Merkel zum Desaster ihrer Partei zu sagen: „Ich sehe es nicht als ein existentielles Problem der CDU, aber ich sehe es als Problem.“

Wenige besonnene Stimmen

Immerhin gab die CDU-Chefin am Montag wenigstens zu, „daß gestern ein schwerer Tag für die CDU war“. An Rücktritt dachte sie genausowenig wie SPD-Chef Sigmar Gabriel, dessen Partei in Sachsen-Anhalt fast pulverisiert und in Baden-Württemberg aus ohnehin schwacher Position heraus kommend noch einmal halbiert wurde. Kein Generalsekretär trat zurück, nur zwei weithin unbekannte Funktionäre in Sachsen-Anhalt wollen gehen. Alle anderen kleben an ihren Sesseln bis zum Schluß. Hätte sich die rheinland-pfälzische Spitzenkandidatin Julia Klöckner nach einem Wahlsieg noch als Alternative zu Merkel und ihrer Flüchtlingspolitik empfehlen können, so ist auch dies nun vorbei. Ihr Satz „Wir hätten noch mehr verloren an die AfD, wenn wir uns nicht klar positioniert hätten in dieser Frage“ spricht für die Ratlosigkeit des gesamten Politikbetriebs. Im Gegenzug stützt Klöckners Niederlage Gabriel, der mit der siegreichen Mainzer Ministerpräsidentin Malu Dreyer wenigstens einen Erfolg in Händen zu halten glaubt. 

Das Klammern an Ämter ist Ausdruck einer Abschottung von der Realität und den Gefühlen der Deutschen. Wie aus einer Parallelwelt wirken Äußerungen von Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU), die das Ergebnis der Wahlen in einer Fernsehsendung so zusammenfaßte: 80 Prozent der Wähler hätten mit ihrer Stimmabgabe ihre Unterstützung für die von der Bundeskanzlerin angestrebte europäische Lösung der Flüchtlingskrise zum Ausdruck gebracht. Inzwischen adoptiert die CDU nicht nur die Themen der anderen Parteien, sondern deutet auch deren Wahlsiege in eigene um. Von der Leyen ist nicht allein. Auch der CDU-Vorsitzende von Nordrhein-Westfalen, Armin Laschet, sah in den Ergebnissen eine Bestätigung des Kurses der Bundesregierung: Wer sich öffentlich für eine europäische und gegen alle nationalen Lösungen einsetze, habe bei den Wahlen gut abgeschnitten: „Das heißt für uns, es darf keine Kursänderung geben“, schlußfolgerte Laschet.

Natürlich gab es auch besonnene Stimmen, etwa vom sachsen-anhaltinischen Ministerpräsidenten Reiner Haseloff, der verlangte, nach den drei Wahlen könne die CDU „nicht so weitermachen“. CDU-Präsidiumsmitglied Jens Spahn forderte: „Es ist unsere Aufgabe als CDU, so weit wie möglich auch diejenigen zu integrieren, die verunsichert sind, die Sorgen und Zweifel haben.“ Überhaupt keine Rezepte mehr hat die SPD. Außenminister Frank-Walter Steinmeier versuchte, die AfD in die äußerste rechte Ecke zu schieben: „Ja, es ist eine demokratiefeindliche Partei, der wir uns mit voller Vehemenz, mit Argumenten entgegenstellen müssen“, ließ er über seine Sprecherin ausrichten. Das wird eine harte Schlacht zum Beispiel für die Handvoll noch verbliebenen Landtagsabgeordneten und die überalterten Ortsvereine im deutschen Südwesten. Grüne und Linke schwadronieren derweil vom „breiten Bündnis gegen Rechts“. 

Die Handwerker der Macht von CDU, SPD und Grünen sehen die Entwicklung pragmatisch: Sie wollen, soweit möglich, die wiederauferstehende FDP an den Regierungen beteiligen. Deutschland ist damit auf dem Weg in Viel-Parteien-Regierungen und beginnt sich instabilen südeuropäischen Verhältnissen anzunähern. Zugleich wird klar, daß der alte Volksparteien-Typus, den CDU und CSU am längsten verkörperten, zum Auslaufmodell geworden ist. Die Große Koalition, die zu Kiesingers Zeiten 90 Prozent der Stimmen auf sich vereinigte, hat in Sachsen-Anhalt und Baden-Württemberg nicht einmal eine Mehrheit.

Wer wie Spahn das Problem der ehemaligen Volksparteien auf die Flüchtlingskrise reduziert, betrachtet die Lage eindimensional. Sollte es tatsächlich gelingen, Merkel in der Flüchtlingskrise zur Umkehr zu bewegen wie einst Kanzler Gerhard Schröder, der nach heftigen Niederlagen seiner SPD mitteilen ließ, „wir haben  verstanden“, kommen sofort die nächsten Problemebenen ins Spiel: Wer für die Familie von Vater, Mutter und Kindern eintritt, hat doch in den heutigen Bundestagsparteien bestenfalls eine Außenseiterposition; wer gegen die Energiewende ist, kann als „Klimaleugner“ sofort gehen; wer das jedwede Zuständigkeit ansaugende Schwarze Loch namens EU-Kommission in Frage stellt, ist völkisch-reaktionär, und wer den Euro als Wohlstandsgefahr betrachtet, wird in allen Bundestagsparteien und von der FDP-Führung als DM-Nationalist verteufelt. Und wehe, jemand äußert Verständnis für Rußland. Das gilt beinahe als friedensgefährdend. Die Uniformität der Bundestagsparteien ist beängstigend. Die von ihnen betriebene Tabuisierung fast aller Probleme löst diese aber nicht. 

Die CSU hatte mit Strauß ihren Cäsar, mit Stoiber ihren Augustus und hat mit Horst Seehofer jetzt ihren Caligula, jene römische kaiserliche Spottfigur, die schon als Kind in zu großen Schuhen unterwegs war und deshalb „Stiefelchen“ genannt wurde. Seehofer wird mit seinen täglichen Positionswechseln die CSU nicht retten und der CDU nicht helfen können, auch wenn er jetzt das Ende von „Protest light“ gegen Merkel ausruft. Aber er hat der Union sieben Jahrzehnte nach ihrem Beginn den Weg aufgezeigt: „Aus dem Sinkflug kann ein Sturzflug werden, kann auch ein Absturz werden.“ So wird es kommen. Diese Entwicklung scheint wirklich alternativlos.