© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/16 / 18. März 2016

Draghis Nebenwirkungen
Nullzinsen: Privat Krankenversicherten drohen drastische Beitragserhöhungen / In der Demographiefalle?
Peter Offermann

Zwischen Asylkrise, Landtagswahlen, Fußball und dem Dauerfeuer gegen Donald Trump ging die wichtigste Meldung der vorigen Woche fast unter: Die Europäische Zentralbank (EZB) hat ihren Leitzins erstmals auf null Prozent gesenkt. Der Einlagenzinssatz für Banken fiel von minus 0,3 auf minus 0,4 Prozent. Dieses Maßnahmenpaket würde die „Finanzierungskonditionen in der Währungsunion weiter verbessern“, argumentierte EZB-Chef Mario Draghi.

Auch der mit zwei Billionen verschuldete deutsche Staat profitiert von den Nullzinsen: Wolfgang Schäubles Umschuldungen bleiben spottbillig, die eingesparten Zinsmilliarden erleichtern Merkels Willkommenspolitik. Der billige Euro hält die deutsche Exportlokomotive am laufen. Die Beschäftigung ist hoch, die Reallöhne wachsen, die Arbeitslosigkeit und die Benzinpreise sind niedrig – warnende Stimmen kommen nur von miesepetrigen Volkswirten, Sparkassen- und Raiffeisenfunktionären sowie von AfD-Politikern.

Doch Draghis Geldpolitik schafft in der Tat auch Millionen Verlierer: Sparer werden schleichend enteignet (JF 48/15), Geldmarktfonds, Lebensversicherungen, Betriebs- und Riesterrenten oder Versorgungswerken droht der Kollaps (JF 24/15). Viele Stiftungen können künftig kaum noch etwas erwirtschaften. Die kapitalgedeckte private Krankenversicherung (PKV) gibt sich beim Thema EZB-Politik hingegen gelassen: Versicherte müßten „keine höheren Beiträge infolge von Negativzinsen befürchten“, heißt es vom PKV-Verband. Die Mitgliedsunternehmen erwirtschafteten weiter eine durchschnittliche Nettoverzinsung von über 3,5 Prozent.

Für viele Versicherte des zweitgrößten Anbieters DKV dürfte das wie Hohn klingen: Zum 1. April steigen die Beiträge um bis zu 43 Prozent, über alle Tarife im Schnitt um 7,8 Prozent. Betroffen sein werden 59 Prozent der 815.000 Vollversicherten. Teilweise sind das fast 130 Euro pro Monat mehr. Über 65jährige müssen mit bis zu 80 Euro rechnen. Wer zudem Risikozuschläge wegen chronischer oder Vorerkrankungen zahlen muß oder wer Zusatzversicherungen abgeschlossen hat, muß sich auf noch höhere „Beitragsanpassungen“ einstellen. DKV-Sprecherin Sybille Schneider kann der 29-Prozent-Erhöhung bei Tarif BM4 eine positive Seite abgewinnen: Der Durchschnittsbeitrag liege ab April bei 433 Euro im Monat und damit weit unter dem Höchstbeitrag der gesetzlichen Kassen (GKV) von 665 Euro. Daß dort Hausfrauen und Kinder beitragsfrei mitversichert sind, ist das eine. Aber auch die privaten Konkurrenten sind besser, sie erhöhten ihre Beiträge Anfang des Jahres im Schnitt nur um 4,1 Prozent (JF 3/16).

Älter werdende Bestände, weniger gesunde Neukunden

Nun zur Axa, Continentale oder Debeka zu wechseln mag sich kurzfristig auszahlen – mittel- und langfristig ist die finanzielle Situation bei den anderen Anbietern nicht besser. Zum einen werden die Versichertenbestände der Unternehmen immer älter. Das Durchschnittsalter der DKV-Versicherten stieg innerhalb fünf Jahren um fast vier Jahre auf 48,6 Jahre. Gleichzeitig versichern sich immer weniger junge Menschen privat. Ein Umstand, der nicht nur der Einkommenssituation, sondern auch der strikten Annahmepolitik der Branche geschuldet ist. Wer nicht kerngesund ist, hat fast keine Chance auf privaten Versicherungsschutz. Ein weiterer Grund ist der deutliche Anstieg der erbrachten Versicherungsleistungen und die drastisch gestiegenen Kosten im Gesundheitsbereich. Besonders die Beträge, die für Behandlungen im stationären Bereich aufgewendet werden müssen, haben sich vervielfacht. Privatversicherte sind für Krankenhäuser und niedergelassene Ärzte finanziell attraktiv, da sie für vergleichbare Leistungen in der Regel mehr zahlen. Sie leisten damit einen überproportionalen Beitrag zum Erhalt des im internationalen Vergleich hervorragenden deutschen Gesundheitswesens – aber wie lange noch?

Und da kommt wieder Draghi ins Spiel und die Mär von der Immunität gegenüber Negativzinsen. Ohne die Hinzunahme von 439 Millionen Euro aus Rückstellungen wäre das kommende DKV-Beitragsplus noch drastischer ausgefallen. 

2014 hatten die PKV-Anbieter Alterungsrückstellungen von 177,7 Milliarden Euro in der Krankenversicherung angesammelt – 6,5 Prozent mehr als im Vorjahr. Hinzu kamen 28,5 Milliarden Euro in der Pflegeversicherung. Doch bei anhaltender Niedrigzinsphase vermehren sich diese Versichertengelder nicht mehr so wie früher. Auf riskantere, aber ertragreichere Alternativen auszuweichen ist für Versicherer nicht nur rechtlich kaum möglich.

Für jeden Prozentpunkt, welchen die Assekuranzen künftig weniger erwirtschaften, muß mit Beitragssteigerungen von zehn Prozent gerechnet werden. Der Ausweg heißt: weitere Beitragserhöhung oder höherer Selbstbehalt. Wer sich das im Alter nicht leisten kann, muß in den PKV-Basistarif wechseln, der wie in der GKV auf 665 Euro pro Monat gedeckelt ist und auch nur GKV-Leistungen anbietet.

Das GKV-System hat Draghis Zinspolitik bereits im letzten Jahr zu spüren bekommen: Der Gesundheitsfonds, der die Beiträge der Sozialversicherten und ihrer Arbeitgeber einsammelt und an die medizinischen Leistungserbringer verteilt, mußte bereits 1,8 Millionen Euro Strafzinsen an seine kontoführenden Banken bezahlen. Und auch die gesetzliche Rentenversicherung (GRV) hat mittlerweile arge Schwierigkeiten, ihre Milliardenreserven ohne Verluste für die Beitragszahler sicher anzulegen.