© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/16 / 18. März 2016

Lebensgesetze, nicht verhandelbar
Von Fellachen und Nomaden: Die deutsche Literatur braucht einen Oswald Spengler in Romanform
Thorsten Hinz

Der „Turm“, Uwe Tellkamps um 200 Seiten zu lang geratener Erfolgsroman, endet mit einem sogenannten Cliffhanger: „... aber dann auf einmal (…) schlugen die Uhren, schlugen den 9. November, ‘Deutschland einig Vaterland’, schlugen ans Brandenburger Tor:“ Die Erwartung, die der Doppelpunkt weckt, bleibt unerfüllt, was wohl heißt: Fortsetzung folgt.

Tatsächlich ließ Tellkamp mehrmals wissen, daß er an einer Fortsetzung mit dem Titel „Lava“ arbeite. Die Konflikte und Handlungselemente sind einigermaßen erwartbar: Es wird um das Staunen über die neue Freiheit und dementierte Lebensentwürfe gehen, um die D-Mark-Einführung, die Treuhand, die Abwicklung von Betrieben, Institutionen, um neue Fremdbestimmung und Eigensinn, um Glücksritter aus dem Westen, die sich mit alten SED-Seilschaften prächtig verstehen. Ein besonders scharfer Parteifunktionär wird vielleicht dank offenliegender Stasi-Akten als Nazi-Opa enttarnt, und amerikanische Nachkommen jüdischer Alteigentümer werden bei den Turmbewohnern vom Weißen Hirsch in Dresden verdrängte Schuld und Ansprüche geltend machen.

Das wird wieder einen populären Unterhaltungsroman und eine Vorlage für einen öffentlich-rechtlichen Mehrteiler ergeben, aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich das Wende- und Wiedervereinigungsthema erschöpft hat. Wenigstens im herkömmlichen Bedeutungsrahmen, der da lautet: Freiheit siegt über Diktatur, sorgt für neue Probleme und Ungerechtigkeiten, doch tendenziell wird alles gut! Dieses Muster hat Tellkamp bedient, als er anläßlich seiner Eloge zum 80. Geburtstag Helmut Kohls in der Bild am Sonntag den neuen Buchtitel erläuterte: „Ein Vulkan war ausgebrochen, Lava rann über Wege, in Abgründe, zäh, heiß, vernichtend, doch auch fruchtbar.“

Über Konflikte schweigt die Gegenwartsliteratur

Sechs Jahre danach hat die Lava-Metapher durch den Asyl-Ansturm eine ungeahnte Konkretheit erhalten. Der Zusammenbruch des sowjetkommunistischen Imperiums, in dessen Verlauf die DDR implodierte, war offenbar bloß der Rauch, der den wahren Vulkanausbruch ankündigte. Die Erste (westlich-kapitalistische) Welt hat die Zweite (östlich-sozialistische) besiegt und in der folgenden Erschlaffungsphase der Dritten Welt die Türe geöffnet. Eine Vierte Welt ist nun im Entstehen, von der nicht klar ist, wem sie mehr ähneln wird: der Ersten oder der Dritten. 

Der „Molekulare Bürgerkrieg“, den Hans Magnus Enzensberger 1993 feststellte, hat sich ausgeweitet, intensiviert und seit 2015 einen echten Qualitätssprung erfahren. Die Beschlagnahme und Verwahrlosung öffentlicher Räume, Vermüllung, Schmutz, Urin- und Kotgeruch und aggressive Bettelei sind noch die harmloseren Kennzeichen. Wir befinden uns inmitten einer schleichenden Neuordnung rechtlicher und zivilisatorischer Standards im Sinne vormoderner und außereuropäischer Sittengesetze. 

Es hat eine – um mit Oswald Spengler zu reden – Fellachisierung begonnen, deren Opfer zunächst Jugendliche, sozial Schwache und alte Menschen sind, die nicht das Geld haben, um aus den umgewidmeten Gegenden fortzuziehen. Über die Konflikte, Leiden, Demütigungen, die sich aus dem alltäglichen Kampf der Kulturen für sie ergeben, schweigt die deutsche Gegenwartsliteratur.

Die in Kleinverlagen erschienenen Romane, die sich des Themas annehmen, sind bestenfalls Geheimtips, spielen im Literaturbetrieb jedoch keine Rolle. Zum Beispiel der Roman „Ruhrkent“ des Anonymus C.M., der in einem muslimischen Autonomiegebiet mit deutscher Minderheit spielt. „Von kommenden Stürmen“ von Thomas Barthélemy (JF 34/14) ist die düstere Dystopie über ein untergegangenes, von Fellachen besiedeltes Europa. Der Justizroman „Pascal Ormunait“ von Björn Clemens und „Bauchschmerzen“ von einem „Wolfgang Gottschalk“ (JF 12/14 und 8/16) berichten von Gewalterfahrungen in der multikulturellen Gesellschaft. Leider sind in diesen Büchern die politischen Thesen oft stärker als die literarische Substanz.

Die vom Literaturbetrieb rezipierten Bücher geben sich „weltoffen“, das heißt, sie verbinden die Politische Korrektheit mit dem Basiswissen des versierten Studiosus-Touristen. Nur wenige Autoren besitzen den geschärften ethnologischen Blick eines Christian Kracht, der in „1979“ einen europäischen Dandy mit den Wirren der islamischen Revolution in Teheran konfrontiert; im weiteren Verlauf der Romanhandlung wird er in einem chinesischen Umerziehungslager zu einem „guten Gefangenen“, der „freiwillige Selbstkritik“ übt und die Regeln einhält. Eher geht es strunzdumm und sentimental zu wie im Flüchtlingsroman „Gehen, ging, gegangen“ von Jenny Erpenbeck: „Nur wenn sie [die Flüchtlinge] Deutschland überleben, hatte Hitler den Krieg wirklich verloren.“ (JF 3/16) 

Mit dem Begriff „Fellachisierung“ wird nicht zwingend ein Werturteil abgegeben. Man kann es wie Botho Strauß im „Anschwellenden Bocksgesang“ halten: Die Würde der bettelnden Zigeunerin sehe ich auf den ersten Blick. Nach der Würde (...) meines deformierten, vergnügungslärmigen Landsmannes in der Gesamtheit seiner Anspruchsunverschämtheit muß ich lange, wenn nicht vergeblich suchen.“

Damit ist zugleich gesagt, daß die Fellachisierung nicht einfach von außen kommt, sondern durch einen inneren Prozeß vorbereitet wird. Im „Untergang des Abendlandes“ hat Spengler den städtischen Nomaden als den Träger dieses Prozesses herausgestellt. Seine „bis zum Äußersten gesteigerte Intelligenz (findet) keine Gründe mehr für ihr Vorhandensein“, der Kreislauf von Zeugung, Geburt und Tod ist für ihn des mystischen Zaubers entkleidet. Musterbeispiel stellen für ihn die „Ibsenweiber“ dar: „statt der Kinder haben sie seelische Konflikte“.

Organische Bindungen gehen verloren

Was Spengler als kulturmorphologischen Degenerationsprozeß deutete, indem er das Altertum, das Mittelalter und die Neuzeit der Kulturen mit der Früh-, Reife- und Endphase in der Natur in Beziehung setzte, beschrieb der Marxist Georg Lukács als Folge der modernen Produktionsweise: In den rationalisierten Arbeitsprozessen werden die natürlichen Eigenschaften und Bedürfnisse des Menschen „als bloße Fehlerquellen“ bewertet, die den reibungslosen Ablauf der Produktion stören. Um konkurrenzfähig zu bleiben, muß er die Fehlerquellen verschließen, seine „unmittelbar-organischen“ Bindungen kappen und sich ganz dem abstrakten Gesetz unterordnen. 

Hat diese mechanische Betrachtungsweise sich erst einmal durchgesetzt, wird jedes Lebensgesetz verhandelbar. Aktuell wird die marktgerechte Familie durch den Ausbau der Kinderbetreuung geschaffen. Warum nicht gleich die künftigen Produzenten und Konsumenten durch Einwanderung oder aus der Retorte generieren?

Mit dem Verlust der organischen Bindungen geht die Idee der Generativität verloren, also die Fähigkeit, das Leben über das eigene hinaus zu denken und die Existenz nachfolgender Generationen in das eigene Denken und Handeln mit einzubeziehen. Dem „flexiblen Menschen“ (Richard Sennet) – der modernen Form des Nomaden – fehlt das Verständnis dafür, daß andere ihr Lebensgesetz durchaus nicht in Frage stellen und ihn selber instinktiv als den nützlichen Idioten und eine schwache Übergangserscheinung erfassen.

Vorerst aber ist er noch eine machtvolle und prägende Kraft. Seine aktuell unangenehmste Ausformung findet er im Global Player, dem Investmentbanker, dem „Master of the Universe“, der an konkrete Räume nicht gebunden ist, keine Loyalitäten für sie empfindet und nur im Unterwegssein zu Hause ist. Auch Politik und Medien werden überproportional von Nomaden geprägt, die ein organisch gebundenes und generativ orientiertes Leben nicht mehr kennen und es höchstens als Fehlerquelle auf dem Weg der Karriere ansehen.

Der französische Schriftsteller Michel Houellebecq hat den Zusammenhang zwischen modernem Nomaden- und Fellachentum bisher am überzeugendsten nachgezeichnet. In seinem Roman „Ausweitung der Kampfzone“ geht es um die Ökonomisierung der Sexualität, in „Platttform“ sieht der europäische Sextourismus in Asien sich mit dem islamistischen Terror konfrontiert, und am Ende der „Unterwerfung“ steht ein islamisiertes Frankreich. 

In seiner 2013 erschienenen Debüt-Novelle „Frühling der Barbaren“ hat Jonas Lüscher zu Houllebecqs Thematik teilweise aufgeschlossen. Reiche Engländer um die Dreißig, die ihr Geld in der Londoner Finanzwelt verdienen, feiern in einer noblen Hotelanlage in Tunesien ein rauschendes Fest, bis sie unvermittelt von der Staatspleite Großbritanniens überrascht und ihre Geldkarten ungültig werden. Die Barbarei, die sich im Folgenden entlädt, ist die der Nomaden, während die Fellachen noch Staffage bleiben. Bisher ist Lüschers Buch ein Solitär, der nach Fortsetzung, Ergänzung und Perfektionierung ruft.

Ein neuer deutscher Wende-Roman müßte sich in diesem erweiterten Bedeutungsrahmen behaupten und bewähren – oder man unterläßt ihn besser.