© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/16 / 18. März 2016

Der Flaneur
Land der Formulare
Ronald Gläser

Eine staatliche Berliner Bibliothek. Ein Flachbau inmitten von Hochhäusern am Rande einer Fußgängerpassage. Draußen mausgrauer Betonflair. Drinnen Stille und der Duft von alten Büchern.

Na ja, ganz ruhig ist es nicht. Eine großgewachsene Dame mit zwei kleinen Kindern betritt die Bibliothek. Sie sucht ein Buch für ihre Jungs im Vorschulalter. Die beiden rennen kichernd durch die Gänge, werden mehrfach von ihr zur Ordnung gerufen. Dabei legt sie den Finger auf die Lippen und macht „Pssssssst“.

Dann spricht sie mit den Jungs. Erst deutsch, dann russisch. Ihr Deutsch hat einen ganz leichten Akzent. „Schau mal, wollen wir das mitnehmen?“ fragt sie ihren älteren Sohn. Er nickt mit dem Kopf. Sie nimmt ein großes Buch in die Hand, und die drei stöbern weiter.

Was für eine Meldebestätigung? Ich habe doch eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis.

Eine Viertelstunde später am Tresen. Die Frau legt ihren Paß auf den Tisch. „Können wir bitte diese beiden Bücher ausleihen?“ fragt sie. „Waren Sie schon einmal bei uns?“ fragt die Bibliothekarin. Dabei blättert sie durch das Personaldokument. Es handelt sich um einen ukrainischen Reisepaß.

„Nein“, antwortet die Mutter. „Dann müssen Sie sich anmelden bei uns.“ „Und wie?“ „Sie füllen das Formular aus. Aber Ihr Paß ... der reicht nicht aus. Wir brauchen eine Meldebestätigung.“ „Was für eine Meldebestätigung? Ich habe doch eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis.“ „Die Meldebestätigung gibt es beim Einwohnermeldeamt. Da müssen Sie mit Ihrem Mietvertrag hingehen und sich bestätigen lassen, wo Sie gemeldet sind.“ Die Bibliothekarin hat zwischenzeitlich ihre Kollegin dazugebeten.

Die Mutter der zwei Jungs schaut irritiert. Dann sagt sie: „Ich habe keinen Mietvertrag. Wir wohnen in einer Eigentumswohnung.“ Die Bibliothekarinnen schauen sich an: „Ja, dann können Sie kein Buch bei uns ausleihen.“ Die Dame und ihre Jungs ziehen ohne das Buch von dannen.