© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/16 / 18. März 2016

Wenn der Zensor mitschreibt
Der US-Ideenhistoriker Robert Darnton über die staatliche Zensur unter dem Sonnenkönig in Versailles bis zum DDR-„Genehmigungsverfahren“
Thorsten Hinz

Die staatliche Zensur von Literatur wird zumeist auf den Kampf zwischen Aufklärung und Reaktion, zwischen Freiheitsdrang und Unterdrückung und als Tätigkeit mit dem Rotstift begriffen. Doch ihre Intentionen und Wirkungen waren und sind vielfältiger und subtiler, wie der renommierte US-amerikanische Historiker und Kulturwissenschaftler Robert Darnton anhand dreier Fallstudien aus unterschiedlichen Zeiten und aus Sicht der Zensoren erzählt.

Im bourbonischen Frankreich mußten die Druckerzeugnisse eine Vorzensur durchlaufen, um die königliche Approbation zu erhalten. Diese kam einer allerhöchsten Empfehlung an das Publikum gleich, war aber auch ein Machtmittel, das zu ignorieren böse Folgen haben konnte. Als eine am Hofe Ludwigs XV. tätige Kammerzofe einen ungenehmigten Schlüsselroman über erotische Eskapaden in den höchsten Gesellschaftskreisen in Umlauf brachte, wurde sie für einige Monate in die Bastille und danach zwölf Jahre hinter Klostermauern verbannt.

Die Aufgaben und das Selbstverständnis der Zensoren ging über die politische Machtversicherung weit hinaus. Sie begriffen sich als Lektoren und Qualitätskontrolleure, die über die Ehre der französischen Sprache wachten. Sie achteten auf die Qualität des Papiers und der Drucklettern und unterstützten damit die heimische Wirtschaft. Die Autoren versuchten verschiedentlich, die Zensur zu unterlaufen: durch Bestechung, durch nachträgliche Änderungen an genehmigten Manuskripten oder indem sie sich Protektoren suchten, hohe Adlige, denen sie ihre Bücher in der berechtigten Erwartung widmeten, sich damit unantastbar zu machen. Ausgerechnet Voltaire, der große Aufklärer, fand nichts dabei, die Zensoren auf seine Gegner anzusetzen. Dartons Werk bietet zugleich eine hintergründige Gesellschaftsgeschichte Frankreichs.

Eine spezifische Aufgabe war der britischen Zensur in Indien übertragen. Nach der Niederschlagung des Sepoy-Aufstands 1857/58 war die Verwaltung von der Ostindien-Kompanie an den Staat übergegangen. Um Anstiftungen zu neuem Aufruhr vorzubeugen, wurde 1867 angeordnet, daß sämtliche Bücher durch die Kolonialverwaltung genehmigt werden müßten. Um mögliche subversive Anspielungen identifizieren zu können, mußten die britischen Beamten sich intensiv mit der indischen Kultur, Geschichte und den Religionen beschäftigen. Die indischen Juristen wiederum, welche die der Aufstachelung zum Haß angeklagten Autoren verteidigten, hatten in England studiert und waren neben den britischen Gesetzen und mit dem Gedankengut des Liberalismus vertraut, mit dem Großbritannien auch seine Kolonialpolitik ideologisch begründete. 

Um nicht als die Vertreter der Tyrannei zu erscheinen, legten die Behörden größten Wert darauf, die Repression in ein rechtsstaatliches Verfahren zu gießen und das Prinzip der Pressefreiheit wenigstens offiziell nicht in Frage zu stellen. Die Gerichtssäle wurden damit zum „hermeneutischen Schlachtfeld“, auf dem allerdings stets die imperialistische Staatsräson über den Liberalismus siegte. Man kann das Heuchelei nennen. Vor allem aber ist die Zensurpraxis ein Beispiel für den Pragmatismus und die Elastizität der britischen Kolonialpolitik, die den Erwerb und Erhalt des Empires über lange Zeit sicherten. 

In diesem Kontext erscheint die Zensurpraxis in der DDR, die im dritten Kapitel abgehandelt wird, beinahe als bloß noch mittleres Skandalon. Offiziell gab es in der DDR keine Zensur. Daran ist soviel richtig, daß sie nicht als einmaliger Akt, sondern als langwieriger und in sich oft widersprüchlicher Prozeß praktiziert wurde, der unter dem Begriff „Genehmigungsverfahren“ firmierte. Die beteiligten Institutionen von Partei und Staat, die Verlage, Gutachter zogen dabei keineswegs immer am gleichen Strang. Die Kulturpolitik war das bevorzugte Feld, um Auseinandersetzungen zwischen betonierten und eher liberalen Funktionären auszutragen.

Schroffe Publikationsverbote waren die Ausnahme, denn Autoren, Gutachter und Bürokraten waren sich in den weltanschaulichen Grundzügen meistens einig. Am Beispiel von Volker Brauns 1981 fertiggestelltem, doch erst 1985 in Mini-Auflage erschienenen „Hinze-Kunze-Roman“, der aus marxistischer Sicht die Erstarrung oder – wie man im Rückblick weiß – Todverfallenheit der DDR aufzeigte, stellt Darton dar, wie kritische Autoren, wohlmeinende Gutachter und gemäßigte Funktionäre kooperierten und gemeinsam ausloteten, „was ging“ oder – eben nicht. Umarbeitungen am Manuskript gehörten dazu. In diesem Sinne hat die Zensur an der DDR-Literatur „mitgeschrieben“. Ob die Texte dadurch an Qualität gewonnen oder verloren haben, muß im Einzelfall entschieden werden.

Darnton ist eine glänzende Innenansicht der Herrschaftsgeschichte und eine Historisierung der DDR gelungen, die noch glänzender ausgefallen wäre, wenn ein kompetenter Zeitzeuge das Manuskript gegengelesen hätte. Die kleinen sachlichen Fehler wären behoben und die Darstellung um einige aufschlußreiche oder amüsante Anekdoten und Details bereichert worden.

Man wünschte sich ein viertes Kapitel über die gegenwärtigen Formen der Zensur. Darnton hat im Nachwort auch mögliche Einwände vorweggenommen und entgegnet, daß die Kontrolle durch den Markt stets noch Ausweichmöglichkeiten offenließe und mit staatlicher Gängelung nicht zu vergleichen sei. Das ist, am eigenen Buch gemessen, eine rückwärtsgewandte Auffassung. Denn im Vorwort schreibt Darnton: „Wenn Staaten im Zeitalter des Buchdrucks solche Macht ausübten, was hindert sie dann daran, Macht in der Ära des Internets zu mißbrauchen?“

Robert Darnton: Die Zensoren. Wie staatliche Kontrolle die Literatur beeinflußt hat. Siedler Verlag, München 2016, gebunden, 350 Seiten, 24,99 Euro