© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/16 / 25. März 2016

Der erfüllte Augenblick bleibt unvergänglich
Literatur: Zur Erinnerung an die vor 75 Jahren verstorbene englische Schriftstellerin Virginia Woolf
Heinz-Joachim Müllenbrock

Virginia Woolf wurde am 25. Januar 1882 als Tochter des bedeutenden Literaten Leslie Stephen, des Herausgebers des „Dictionary of National Biography“, in eine wohlhabende Familie der oberen Mittelklasse geboren. Trotz der Intellektualität des Vaters wurde das Leben der Stephens von den patriarchalischen Geschlechterrollen des Viktorianismus beherrscht, denen gegenüber Virginia Woolf früh eine abwehrende Haltung einnahm.

Ihren Drang nach geistiger Unabhängigkeit konnte sie seit 1905 in Bloomsbury verwirklichen, wo sie zusammen mit ihrem Mann Leonard Woolf 1917 die Hogarth Press gründete, einen Alternativverlag für modernistische Literatur, in dem ihre Werke bis heute in preiswerten Ausgaben erscheinen. Ihr Heim wurde Mittelpunkt der nach dem Londoner Stadtteil benannten Bloomsbury Group, eines freisinnigen Freundeskreises, zu dem neben anderen E. M. Forster, Lytton Strachey, Roger Fry, Clive Bell, Vita Sackville-West und John Maynard Keynes gehörten. Der Hausphilosoph dieses avantgardistischen Intellektuellenzirkels war G. E. Moore, der dessen Wertekanon formulierte. Insbesondere in seiner Schrift „Principia Ethica“ (1903) legte er dar, daß es nur zwei absolute Güter in der Welt gebe, die Freuden ästhetischen Genusses und die Freuden des persönlichen Umgangs mit anderen Menschen.

Die Tyrannei des Plots lehnte sie ab

Virginia Woolfs Romanwerk kann in vieler Hinsicht als Spiegel der Mentalität Bloomsburys betrachtet werden. Ihre gegen die gängige Romanpraxis gerichtete Literaturauffassung drückte sie unter anderem in ihrem Essay „Modern Fiction“ (1919) aus, in dem sie sich gegen die von ihr als Materialisten etikettierten Romanciers H. G. Wells, Arnold Bennett und John Galsworthy wandte, die nach ihrer Auffassung nur die materielle Oberfläche der Wirklichkeit wiedergäben. Insbesondere lehnte sie die Tyrannei des Plots ab, der mit seiner streng kausalen Anordnung der einzelnen Handlungsteile bereits eine Verfälschung der Realität bedeute. Sich der Zwangsjacke des Plot zu entledigen wurde zum Leitfaden ihrer Erzählkunst.

Virginia Woolf, die den Materialisten den Spiritualisten James Joyce entgegenstellte, erhob die programmatische Forderung, die Unzahl von Impressionen aufzuzeichnen, die sich mit wechselnder Intensität in das Bewußtsein eines jeden Menschen drängen. Der Darstellung von Bewußtseinszuständen als der letzten Realität des Lebens widmete sie ihr Romanschaffen.

Ihr erstes markantes Romanexperiment war „Jacob’s Room“ (1922), die Biographie eines jungen Mannes, dessen Wesensart und Lebensumstände hauptsächlich durch die flüchtigen Wahrnehmungen anderer Personen vermittelt werden. Es handelt sich um eine kaleidoskopische Abfolge von Augenblickseindrücken, die unaufhörlich fragmentarische Einblicke in die sorgfältig, aber wie zufällig ausgeleuchtete Persönlichkeit der Hauptfigur gewähren. 

Im Vergleich zu dem assoziativ-sprunghaften Vorgehen des Autor-Erzählers von „Jacob’s Room“ mutet „Mrs. Dalloway“ (1925) weniger revolutionär an. Dieser populärste Roman Virginia Woolfs stellt das gepflegtere Pendant  zu Joyces „Ulysses“ (1922) dar. Ähnlich wie dieser weist „Mrs. Dalloway“ mit der Konzentration auf einen Junitag des Jahres 1923 in London eine geradezu klassische raum-zeitliche Beschränkung auf. Im Unterschied zu Joyces rein naturalistischer, den inneren Monolog ungefiltert reproduzierender Erzählweise führt Virginia Woolf, die sich gern der erlebten Rede bedient, jedoch Mrs. Dalloways  Gedanken- und Gefühlsbewegungen in einer korrekten, stilistisch gezügelten Sprache vor, die ihrem gesellschaftlichen Umfeld entspricht.

In der Radikalität ihres Erkenntnisansatzes steht sie Joyce aber keineswegs nach. Die ohnehin triviale Handlung  eines üblichen Alltagsverlaufs wird fast ausschließlich im Bewußtsein Mrs. Dalloways und der Personen ihrer Umgebung gespiegelt. Dennoch bleibt die Topographie Londons stets gegenwärtig. 

Clarissa Dalloway, diese kultivierte Vertreterin des oberen Bürgertums, welcher der psychisch labile, lebensuntüchtige und Selbstmord verübende Septimus Warren Smith – Woolfs  biographisches Alter ego – in der Nebenhandlung kontrastiv beigesellt ist, gibt sich ganz der Entfaltung ihres individuellen Bewußtseins inmitten eines fließenden Lebensrhythmus hin – das den Roman beherrschende Symbol der Welle taucht bereits auf der ersten Seite auf. Diese Vergewisserung ihres Selbst als der eigentlichen Realität des Daseins mündet immer wieder in die oft von äußeren Sinneseindrücken ausgelöste Vergegenwärtigung der Vergangenheit ein.

Erinnerungen an das Gewesene sammeln 

Die den Tagesablauf begleitenden Glockenschläge von Big Ben – der Roman sollte ursprünglich „The Hours“ heißen – stimmen das Thema der Zeit und damit der Vergänglichkeit an, der sich die schon alternde Hauptfigur stellt. In dem Gleiten zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vollzieht sich ihr der inneren Wirklichkeit gewidmeter Bewußtseinsprozeß. Gemäß der an Henri Bergson und Marcel Proust angelehnten Zeitauffassung der Autorin, die eine Aufgabe der herkömmlichen Chronologie bedingt, setzt Mrs. Dalloway dem Verrinnen der Zeit das Gefühl der Dauer entgegen, welches der erfüllte Augenblick ermöglicht, durch den sie der Unvergänglichkeit des Gewesenen im Sammeln der Erinnerungen bewußt wird. Gerade die Behandlung des Zeiterlebnisses zeigt Virginia Woolf auf dem Höhepunkt der europäischen Bewußtseinskunst. 1997 wurde der Roman mit Vanessa Redgrave in der Hauptrolle verfilmt. Regie führte die niederländische Regisseurin Marleen Gorris.

Virtuos gehandhabte Bewußtseinsstromtechnik kennzeichnet auch Virginia Woolfs späteren Romane „To the Lighthouse“ (1927) und vor allem „The Waves“ (1931).

Ihr reges Interesse an Geschichte schlug sich auf kapriziöse Weise in „Orlando“ (1928) nieder, einem der ungewöhnlichsten historischen Romane überhaupt. In dieser phantastischen Biographie spaziert der Protagonist, der zunächst in der elisabethanischen Zeit als junger Adliger auftritt und sich im Zeitalter Karls II. in eine Frau verwandelt, durch die verschiedenen Epochen der englischen Geschichte. Virginia Woolfs durchgängiges Anliegen der Bestimmung personaler Identität verbindet sich in dieser elegant dahingetupften, aber bildungsgesättigten Erzählung mit dem sie ebenfalls beschäftigenden Thema weiblicher Emanzipation. Orlandos androgyne Veranlagung ermöglicht es der Autorin, die Geschlechterrollen selbstbewußt durchzuspielen, wobei die Grenzen zwischen männlicher und weiblicher Persönlichkeitsstruktur fließend sind.

Eine kultivierte Ikone des Feminismus

Virginia Woolf, die in ihren sozialkritischen Essays „A Room of One’s  Own“ (1929) und „Three Guineas“ (1938) die mangelnden Bildungschancen für Frauen beklagte, ist auch eine Ikone des Feminismus. Allerdings hebt sich die disziplinierte Kultiviertheit dieser Repräsentantin Bloomsburys wohltuend ab von dem martialischen Gepolter und zelotischen Eifer späterer, ästhetisch meist unbedarfter Feministinnen.

Mit „Between the Acts“ (1941), ihrem zweiten historischen Roman, verabschiedete sich Virginia Woolf buchstäblich von der literarischen Szene. Schauplatz  dieses an einem Junitag des Jahres 1939 spielenden Romans ist ein traditionelles Dorffest, dessen Höhepunkt die Aufführung eines Bilderbogens der englischen Geschichte bildet. Die zeitgeschichtliche Sensibilität der Autorin bekundet sich in den mehr angedeuteten als explizit geäußerten Zweifeln, ob die durch gemeinsame Sprache und Literatur gestiftete nationale Kontinuität, die sie zerstörerischen Tendenzen entgegenstellen möchte, von Dauer sein werde. Geschichte wird als ein von polaren Spannungen wie Fortschritt und Dekadenz beherrschtes  Konfliktfeld begriffen, das in der ominöse Vorzeichen aufweisenden Gegenwart, deren Zivilisation brüchig geworden ist, einer ungewissen Zukunft harrt.

Noch bevor „Between the Acts“  erschien, hatte sich Virginia Woolf dem von ihr vorausgeahnten und sie bedrückenden Unheil Europas durch ihren Freitod am 28. März 1941 entzogen.






Prof. Dr. Heinz-Joachim Müllenbrock ist emeritierter Ordinarius für Anglistik an der Georg-August-Universität Göttingen. In der jungen freiheit schrieb er zuletzt über H. G. Wells (JF 3/16).