© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/16 / 25. März 2016

Bundesrepublik und Kulturrevolution
Die Welt ohne Morgen
Wolf Kalz

Die Aufbauphase der Bonner Republik war noch aus der Kraft der Volksgemeinschaft bestritten worden. Es war das die Zeit, als die taktlos als „Trümmerfrauen“ Benannten den Schutt der Terrorangriffe wegräumten, die Straßen für den Wiederaufbau pflasterten und als Notgemeinschaft aller Deutschen das „Wirtschaftswunder“ auf den Weg gebracht hatten.

Doch je reicher das Gemeinwesen wurde, um so mehr machte es uns zu Zeugen der Implosion der Volksgemeinschaft hin zu einer Gesellschaft von Individuen. (Wer von einer nicht nachweisbaren „Völkergemeinschaft“ schwärmt, dürfte am Singular der Volksgemeinschaft schwerlich Anstoß nehmen.) Die einen machten fortan das „Ohne mich!“ zur Devise, andere erklärten frech – „Mein Bauch gehört mir“. Bis in die letzte Schulstube lehrte man, daß neben der „freien Entfaltung der Persönlichkeit“ alles Sonstige „relativ“ sei, weswegen absolut nichts und niemand für sich Autorität beanspruchen dürfe. Diese Haltung wurde für die Generation der Achtundsechziger das Einfallstor zu deren praktiziertem Nihilismus.

Was dann in den siebziger und achtziger Jahren die Öffentlichkeit ausmachte, wurde immer mehr zum Abziehbild einer von Amerika geprägten Democracy. Dabei handelt es sich in ihrer US-amerikanischen Variante nicht etwa um ein „demokratisches“ Regierungssystem, sondern primär um einen Lebensstil: den American Way of Life. Der hat durchaus liebenswerte Seiten wie eine überschätzte Toleranz, einen unerschöpflichen Optimismus, eine – wenn auch undefinierte – Freiheit und den Passus des Social Behaviors als dem saloppen Kitt zum Zusammenhalt der multirassischen Gesellschaft.

Mit diesem Way of Life hatten die Deutschen schon in den „goldenen Zwanzigern“ Bekanntschaft gemacht, einschließlich allerdings des Schwarzen Freitags, der die Kehrseite des amerikanischen Systems offenlegte: Profitgier, exzessive Werbung, Konsumidiotismus und ein von David Riesman in „The Lonely Crowd“ dargestellter Konformismus. Nichtsdestoweniger schufen sich die Amerikaner durch ihre leichte Lebensart hierzulande viele Freunde, ja man konnte vermuten, diese Amis hätten das Glück – the pursuit of happiness – erfunden, denn wo immer auf der Welt Coca Cola zu finden war, da war, da ist ein Stück glücklichen Amerikas.

Die Bundesrepublik gedieh unter solcher Schutzmacht prächtig. Doch als am 9. November 1989 unter dem Stakkato „Wir sind das Volk!“ unversehens die innerdeutsche Mauer fiel, da wurde das längst für verloren Gegebene zum Menetekel einer vermeintlichen Wiedergeburt der Deutschen als Nation. Damit aber solches in dem gegebenen europäischen Umfeld keinesfalls geschehe, arbeitete Bonn mit seinen Wirtschaftsliberalen, mit der „Treuhand“ und allerlei Warnern und Mahnern hoch effektiv dagegen und stürzte sich Hals über Kopf in den Sumpf „Europa“ mit dessen Entartungen auf allen Gebieten, und „alle“ heißt hier nicht manche, sondern buchstäblich alle.

Ob eine Einrichtung funktionstüchtig war oder der Gemeinschaft förderlich, das sprach nicht für deren Erhalt, im Gegenteil. Dazu genügte, daß ihr Existieren an Recht und Ordnung appellierte dergestalt, daß man sich auf sie verlassen konnte.

Von „unseren Werten“ ist zwar viel die Rede, doch präsentieren diese sich ausschließlich als Grenzüberschreitungen und Tabuzerstörungen als der erklärten Lieblingsbeschäftigung aller Liberalen. In der politischen Praxis führte das zur „sozialliberalen Koalition“. Die sah ihren Zweck in der „Demokratisierung“ aller Lebensverhältnisse mit Wirkung der Entfesselung der Gesellschaft zum Anarchonihilismus. Die folgende „christlich-liberale Koalition“ fand die Liberalen wieder mit im Boot zu weiterer „Liberalisierung“, das heißt Deregulierung, Auflösung der Gesellschaft und der ihr Halt gebenden Institutionen. Das war die Ära, in der sich ein Medium vom Schlage der Zeit zum Flaggschiff liberaler Agitation auswuchs.

Nichts sollte bleiben, wie es gewesen war: Sämtliche Institutionen und die als „Sekundärtugenden“ beargwöhnten deutschen Werte, sie alle wurden wie besessen „reformiert“, „liberalisiert“, „demokratisiert“, „dereguliert“ oder „privatisiert“ – ein Bildersturm, ja eine Kulturrevolution – angefangen beim Staat über die Schulen und Universitäten bis hin zur Ehe. Ob eine Einrichtung funktionstüchtig war oder der Gemeinschaft förderlich, das sprach nicht für deren Erhalt – im Gegenteil, das machte sie verdächtig. Dazu genügte, daß sie sich – privatwirtschaftlich betrachtet – als nicht profitabel erwies, daß sie von „Opa“ her war oder daß ihr Existieren an Recht und Ordnung appellierte in dem Maße, daß sich der gute Bürger auf sie verlassen konnte.

Fortan führte die unter dem Tarnwort Reformierung veranstaltete Revolutionierung sämtlicher Lebensverhältnisse zum Grundgefühl allgemeiner Unberechenbarkeit, und die als Multikulturalität propagierte Invasion von Millionen aus aller Welt trug zu weiterer Verunsicherung aller Verhältnisse ganz wesentlich bei. Auch Regulatorien wie das Steuerwesen wurden so unverständlich und unberechenbar wie die Justiz, und die Urteilssprüche des einst hochgeachteten Bundesverfassungsgerichts (unter anderem „Soldaten sind Mörder“!) lösten beim Bürger zunehmend Kopfschütteln aus.

So hetzten die in der Verfassung genannten drei Gewalten den Bürger von Reform zu Reform, stießen ihn von einer technischen Revolution in die nächste, stachelten ihn an zu jedweder Art von „Mobilität“ und ließen in frenetischer Neuerungswut in der ihm vertrauten Umwelt keinen Stein auf dem anderen. Mit anderen Worten: Die „rechtsstaatlichen“ Prozeduren der einst als Lebenshilfen für das Gemeinwesen gestifteten Institutionen führten sich vor der Instanz des gesunden Menschenverstands ad absurdum. Das System erweist sich heute als des deutschen Bürgers entschiedenster Feind.

Auch die gesellschaftlichen Schranken, die früher zueinander Distanz halten ließen, wichen der Kumpelhaftigkeit, wie überhaupt der gesellschaftliche Rang eines Menschen dem Beil der Demokratisierung – alle Menschen sind gleich! – anheimfiel.

Alles, was dem Bürger einst Hort seiner Sicherheit gewesen war – sein Volk innerhalb seiner Grenzen, die Zugehörigkeit zu einer geachteten Nation und die Liebe zum Vaterland –, das findet sich unter den Moralkeulen seiner Schinder und Schänder in Neurosen bohrenden Zweifels wieder, und jedwede Zuversicht erdrosselt der Topos von der „deutschen Schuld“. Die Deutschen reagieren auf die offiziöse Verachtung alles dessen, was ihnen einst teuer gewesen, in sich selbstverwirklichender Individualisierung mit Zerstreuungs- und Konsumidiotismus, dabei in ständiger Furcht vor ihrer „Freisetzung“ in die Arbeitslosigkeit.

Gleichgültigkeit herrscht gegenüber den Vorgaben des Gemeinwohls. Das nicht zuletzt deshalb, weil die korrumpierten „Eliten“ nurmehr miserable Beispiele abgeben, die entweder abschrecken oder zur Nachahmung verführen. Und die Medien? Die schlagen mit der von ihnen libertär interpretierten Meinungsfreiheit den Takt dazu. Auch die gesellschaftlichen Schranken, die früher zueinander Distanz halten ließen, wichen der Kumpelhaftigkeit, wie überhaupt der gesellschaftliche Rang eines Menschen dem Beil der Demokratisierung – alle Menschen sind gleich! – anheimfiel. Jetzt findet der Nihilismus als ein rüder Krieg aller gegen alle statt – vordergründig auf den Straßen, in Parteien und Chefetagen, auf den Weltmärkten und auf den unüberschaubaren Terrains schier unausdenklicher Verbrechen; und das nicht nur innerhalb der Nation, sondern von Land zu Land in der „Wertegemeinschaft“ und der „Weltgemeinschaft“ als unter angeblichen Freunden.

Wollte man sich eine Ahnung davon verschaffen, was des Bürgers Sicherheit in einer Welt war, die den Krieg noch als ehrliche ultima ratio regis im Repertoire ihres Denkens und Handelns führte, und wo das Kriegsministerium noch Kriegsministerium hieß und nicht zum „Verteidigungsministerium“ des gegenwärtigen Raubstaatensystems verkommen war, dann brauchte einer nur die ersten Sätze aus Stefan Zweigs Autobiographie „Die Welt von Gestern“ zu lesen, und er erführe, was unserer Zeit, die vor Moral und Weltfriedensgesäusel trieft, an echter Sicherheit, die solchen Namen verdiente, fehlt:

„Alles in unserer fast tausendjährigen österreichischen Monarchie schien auf Dauer gegründet und der Staat selbst der oberste Garant dieser Beständigkeit (...). Alles Radikale, alles Gewaltsame schien bereits unmöglich in einem Zeitalter der Vernunft. Dieses Gefühl der Sicherheit war der anstrebenswerteste Besitz von Millionen, das gemeinsame Lebensideal. Nur mit dieser Sicherheit galt das Leben als lebenswert (...). Es war eine geordnete Welt mit klaren Schichtungen und gelassenen Übergängen, eine Welt ohne Hast.“

Was Zweig nicht erkannte, war, daß es gerade die von ihm auch gerühmten liberalen Kreise gewesen waren, die das Konzert der k.u.k Nation mit ihrer Kritik zersetzten – den Neid und die Eifersucht der großen Mächte entzündeten und in notorischer Aufsässigkeit dem erzkonservativen Gut allgemeiner Sicherheit den Garaus machten.






Dr. Wolf Kalz, Jahrgang 1933, ist Historiker, Germanist, Politologe und Künstler. Von 1970 bis 1995 arbeitete er als Lehrer für Deutsch und Geschichte in Riedlingen an der Donau. Er verfaßte Zeitschriftenaufsätze sowie zahlreiche Bücher, darunter „Das entfesselte Gute“ (2012), „Jüngeriana“ (2013).

Foto: Ausschnitt aus dem „Marilyn Diptych“ (1962) von Andy Warhol als Zifferblatt einer Uhr: Durch den „American Way of Life“, die neue Zeit von Toleranz und Optimismus, schufen sich die Amerikaner hierzulande viele Freunde. Bis in die letzte Schulstube lehrte man, daß neben der „freien Entfaltung der Persönlichkeit“ alles Sonstige „relativ“ sei, weswegen absolut nichts und niemand für sich Autorität beanspruchen dürfe.