© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/16 / 01. April 2016

Pulverfaß Piräus
Asylkrise: Die Balkanroute ist gesperrt, das Abkommen mit der Türkei in Kraft / Als Folge stauen sich in der griechischen Hafenstadt die Immigranten
Hinrich Rohbohm

Einsam und verlassen liegt der Pullover auf dem Asphalt vor dem Passagierterminal E2. Weggeworfen von einem der inzwischen 5.000 Immigranten, die sich rund um die Lagerhallen im Hafen von Piräus aufhalten. Viele von ihnen sind wütend. Ihr Zorn richtet sich gegen die Politik der Europäischen Union. „Warum brauchen die so lange, um eine Entscheidung zu fällen?“ fragt Abdullah, ein 41 Jahre alter Ingenieur aus Syrien. Er trägt eine der neongelben Westen, an denen die freiwilligen Helfer zu erkennen sind, die die Immigranten zumeist mit Lebensmitteln, Kleidung und Zelten versorgen. Abdullah hilft auch, obwohl er selbst vor Krieg und Terror aus Syrien geflohen ist, wie er sagt. Er spricht Arabisch und Englisch, macht sich zwischen den provisorisch gestalteten Unterkünften zwischen den Gates E1 und E3 als Dolmetscher nützlich.

„Da kommt es immer      wieder zu Schlägereien“

Wie Tausende andere, die hier mit den Fähren von den Inseln nach Piräus gekommen sind, weiß auch er nicht, wie es mit ihm weitergehen soll. Seit die Grenzübergänge auf der sogenannten Balkanroute geschlossen sind und die Türkei der EU vertraglich zugesichert hat, neu in Griechenland ankommende Immigranten wieder zurückzunehmen, herrscht Verunsicherung unter ihnen.

„Wohin sollen wir gehen, niemand sagt uns was“, beschwert sich auch der neben Abdullah stehende Hias, ein Mann um die Vierzig mit pockennarbigem Gesicht und wuchtigem dunklen Schnauzbart aus Afghanistan, der angibt, vor den Taliban geflohen zu sein. Wer auf dem Hafengelände von Piräus ausharrt, der zählt einerseits nicht zu jenen Neuankömmlingen, die wieder zurück in die Türkei müssen. Andererseits ist ihnen nach der Grenzschließung der Weg nach Mitteleuropa versperrt.

Und so bleiben sie zunächst im Hafen, darauf wartend, wie die EU über ihr Schicksal entscheiden wird. Weil sich das aber in die Länge zu ziehen droht, ist es unruhig geworden in den Wartehallen der Fährterminals, wo die meisten der Immigranten ihre Decken ausgerollt haben und auf dem Boden nächtigen.

Hustengeräusche hallen von allen Seiten durch die stickigen Räume. Grippe und Durchfallerkrankungen machen die Runde. Auch einige Fälle von Hepatitis hat es hier bereits gegeben. Die aufgestellten Dixie-Klos sind zumeist verschmutzt und übergelaufen. Es fehlt an Waschmöglichkeiten. Duschen sind nicht vorhanden. „Essen und Kleidung sind genug da, aber wir haben nicht genügend Zelte“, erzählt Adullah. Letztere sind begehrt. Bieten sie doch etwas mehr Privatsphäre als die Massenschlafplätze auf den Hallenböden. „Da kommt es dann immer wieder zu Schlägereien“, erzählt Abdullah. Immer kürzer würden die Abstände, in denen es zu Reibereien zwischen den Immigranten komme.

Gleichzeitig nehme ihre Zahl von Tag zu Tag zu. „Mal kommen nur 100 von den Fähren, mal 600, das ist von Tag zu Tag verschieden“, erzählen sie hier übereinstimmend. Weil die Grenzen dicht sind und die Behörden die Immigranten von den ägäischen Inseln wie Lesbos, Samos oder Kos aufs Festland bringen lassen, um Platz für die Internierung der Neuankömmlinge zu erhalten, entwickelt sich die griechische Hafenmetropole zum Pulverfaß. Denn die Unterkünfte dort sind eigentlich nur für die Aufnahme von 1.500 Menschen ausgelegt. Die unklare Situation sorgt für zusätzliche Aggressivität. 

Auch die „Bonn“, ein Einsatzgruppenversorger der deutschen Marine, liegt hier vor Anker. Sie ist eines von sieben Nato-Schiffen, das in der Ägäis mithelfen soll, die Außengrenze besser zu überwachen, über die nach wie vor Hunderte Immigranten in die EU gelangen.

Wunschziel ist Deutschland oder Skandinavien

Unterdessen spitzt sich die Lage in Piräus zu. Einige der Zuwanderer haben begonnen, ihre Essensrationen aus Protest wegzuschmeißen. Andere lassen ihrer Wut freien Lauf, indem sie Stiefel, Jacken und Pullover, die Hilfsorganisationen täglich verteilen, auf den Boden werfen. Immer wieder kommen Busse angefahren, mit denen die Immigranten in Aufnahmelager rund um Athen gebracht werden sollen. Mitfahren will kaum einer. „Wir haben erfahren, daß einige der Lager weit außerhalb irgendwo im Wald stehen sollen. Da will natürlich niemand hin“, erklärt Abdullah.

Schließlich sei man von Piräus mit der Metro schnell in Athen, wo der Victoria Square als Anlaufpunkt für die meisten Immigranten gilt. Dort erfolgt die Kontaktaufnahme mit den Schleusern, werden Gelder für den Weitertransport Richtung Mittel- und Nordeuropa übergeben. „Deutschland oder Skandinavien, das ist das Ziel von fast allen“, sagt Hias. 

Vom Victoria Square aus fahren auch die Busse ab Richtung Idomeni, an die griechisch-mazedonische Grenze, wo die Lage ebenfalls eskaliert. Die Zuwanderer haben Straßen blockiert, wollen so gegen ihre auch hier ungeklärte Lage protestieren. 11.000 Menschen kampieren dort in der Hoffnung, die Grenze doch noch passieren zu können. Und wie in Piräus wird die Stimmung von Tag zu Tag explosiver, Ausschreitungen unter den Immigranten nehmen auch hier zu.

„Der Victoria Square war zwischenzeitlich mit Migranten vollkommen überfüllt“, schildert Dimitris Papageorgiou der jungen freiheit die Situation auf dem Platz vor der mazedonischen Grenzschließung. Der Journalist der rechtskonservativen griechischen Zeitung Eleftheri Ora hatte mit zahlreichen Zuwanderern Gespräche geführt. Immer wieder seien ihm von jungen Männern zwei Gründe für die illegale Einwanderung nach Europa genannt worden: Geld vom Staat ohne Gegenleistung und die freizügigere Lebensweise.

Doch auch jetzt noch, wo die Busse vom Victoria Square nicht mehr bis Idomeni fahren, ist der Platz gut gefüllt. Zumeist sind es Afghanen, Pakistanis und Nordafrikaner, die sich hier aufhalten. In den Camps haben längst Gerüchte über Alternativrouten die Runde gemacht. Bulgarien solle man meiden, die Polizei sei dort äußerst brutal, lassen sich einige entlocken. Albanien wird als Möglichkeit genannt. Wer Geld habe, für den könnten Schlepper Privatboote organisieren, um nach Italien zu gelangen. Viele würden aber auch abseits von Idomeni im Norden Griechenlands ausharren und abwarten, wie sich die Lage weiter entwickelt. Auf detailliertere Nachfragen gibt man sich jedoch bedeckt, auch Abdullah und Hias geben an, nichts Genaueres zu wissen.

Auf dem Victoria Square patrouilliert ein gutes Dutzend Polizisten. Angesprochen auf die Schleuser kommt eine Antwort, die angesichts der offensichtlichen Dinge, die sich auf und um den Platz abspielen, fast schon komisch wirkt. „Wir haben hier keinerlei illegale Aktivitäten feststellen können“, sagt einer von ihnen der JF. Ähnlich wortkarg geben sich die zahlreichen Restaurant- und Cafébesitzer, wenn sie auf die Schleuser-Aktivitäten vor ihrer Haustür angesprochen werden. „Ich weiß nichts darüber, ich habe nichts gesehen“, lautet die Antwort, oft von einem verschämten Blick zur Seite begleitet.  

Doch in der vergangenen Woche platzte den Fahrkartenkontrolleuren der Athener Metro der Kragen. Weil sie bei ihren Kontrollgängen immer wieder von Immigranten sowie Angehörigen des linksradikalen Milieus angegriffen worden waren, legten sie ihre Arbeit für einen Tag nieder. Die Wirkung dürfte sich in Grenzen halten. Schließlich sind Streiks in Griechenland so normal wie Nieselregen in Norddeutschland.

Unterdessen füllen sich auch die Aufnahmelager von Athen dramatisch. Eines davon wurde auf dem Gelände des alten Flughafens errichtet, der 1999 stillgelegt wurde. Es ist ein surreales Bild, das sich in den Räumen bietet. Abfertigungshallen, in denen noch die Wege zu den Flugsteigen, zur Gepäckausgabe oder den Abfertigungsschaltern ausgeschildert sind. Unter denen jetzt aber Iglu-Zelte in allen Farben stehen. Manchmal ist der Weg durch Decken versperrt, die einzelne Familien aufgehängt haben, um sich ein Stück Privatsphäre zu verschaffen. Es ist ein stechender Geruch aus Schweiß, Müll und Essensresten, der in der Luft wabert. Hustende Menschen, die mit blassen Gesichtern auf dem Boden kauern. Kinder, die spielend zwischen den auf dem Boden liegenden Wolldecken und den Zelten hin und her laufen. Zurück will von ihnen trotzdem keiner.

Auch nicht Abdullah, der im Hafen von Piräus schmunzelnd zusieht, wie sich weitere Helfer als Animateure für Kinder und Jugendliche betätigen, indem sie Ballspiele organisieren, um die Situation zu entschärfen. Auch er hat sich Gedanken gemacht, hat Verständnis dafür, daß die Aufnahmekapazitäten der EU begrenzt sind. Sein Vorschlag an die Politik: „Es gibt etwa 72.000 Flüchtlinge in Griechenland. Das ist nicht viel, die kann die EU noch aufnehmen.“ Alle weiteren neu Ankommenden solle man dann abweisen. Die neuen Immigranten dürften da anderer Meinung sein.





Zwischenfall in der Ägäis

Zur Unterstützung des griechischen Küstenschutzes durch die europäische Grenzschutzagentur Frontex hat die Bundespolizei zwei Streifenboote in die Ägäis entsandt. Am vorvergangenen Sonntag meldete eines dieser Schiffe einen Vorfall, den die Bundespolizei auf Nachfrage der jungen freiheit bestätigte.  Demnach stellte das deutsche Einsatzboot ein mit 52 Personen besetztes Schlauchboot vor der Insel Samos. „Die Migranten lehnten eine Hilfeleistung durch die Bundespolizei vehement ab“, heißt es im Bericht. Die Flüchtlinge hätten daraufhin Benzin im Schlauchboot vergossen und damit gedroht, es in Brand zu stecken. Außerdem hätten sie laut Bundespolizei damit gedroht, ihre Kinder über Bord zu werfen. Erst als die Flüchtlinge bemerkt hätten, daß es sich um ein deutsches Einsatzboot handelte, habe sich die Situation beruhigt. Die Bundespolizei habe das Schlauchboot daraufhin bis nach Griechenland begleitet, wo die Einwanderer von Mitarbeitern der Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ versorgt worden seien. Es sei der erste Vorfall dieser Art unter Beteiligung der Bundespolizei gewesen. Normalerweise seien die Flüchtlinge dankbar und erleichtert, wenn sie Hilfe von den deutschen Beamten erhielten, teilte die Behörde der JF mit. (krk, vo)