© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/16 / 01. April 2016

Auf dem Sprung
Migration: Spanien fürchtet, daß Marokko die Kooperation aufkündigt
Michael Ludwig

Seit sich herumspricht, daß die Balkanroute dicht ist, schrillen in Spaniens Hauptstadt die Alarmglocken. In den Fluren der Madrider Ministerien wird die Sorge angesprochen, daß neben Italien auch die Iberische Halbinsel Ziel einer massenhaften und unkontrollierten Einwanderung werden könnte. Bislang hatte Spanien mit Marokko einen zuverlässigen Bündnispartner, der Flüchtlinge daran hinderte, die Küste des Landes in Richtung Europa zu verlassen – doch die Absprachen stehen auf der Kippe.

Nach Ansicht des Madrider Innenministeriums ist die Gefahr eines neuerlichen Ansturms auf die Außengrenzen der EU nicht hoch genug einzuschätzen. An Marokkos Küste haben sich rund 50.000 Schwarzafrikaner gesammelt, jederzeit dazu bereit, sich auf den Weg zu machen. Weitere 50.000 warten in den Ländern südlich der Sahelzone auf eine günstige Gelegenheit, um sich in Richtung Norden in Bewegung zu setzen. 

Hinzu kommen die Migranten aus dem Mittleren Osten, deren Zahl durch das türkisch-europäische Rückführungsabkommen sprunghaft steigen wird. „Wenn eine Tür geschlossen ist, suchen sich die Menschen, die wegwollen, eine andere“, erklärte Innenminister Fernández Díaz in einem Interview mit dem Fernsehsender RTVE.

UN- und EuGH-Politik sorgt für Sorgenfalten in Madrid  

Hintergrund der eskalierenden Situation ist ein Streit zwischen Brüssel und den Vereinten Nationen auf der einen Seite und Rabat auf der anderen. Die ehemalige spanische Kolonie Westsahara wurde, nachdem es von Madrid 1976 in die Unabhängigkeit entlassen wurde, vom benachbarten Marokko annektiert. Seither kämpft die Widerstandsbewegung Polisario gegen die marokkanischen Besatzungstruppen. 

1991 schlossen die verfeindeten Parteien einen Waffenstillstand. Marokko kontrolliert etwa zwei Drittel des Wüstenlandes, alle größeren Städte und die bedeutenden Phosphatvorkommen, die Polisario das Hinterland. Die Demokratische Arabische Republik Sahara, wie die Polisario das von ihr beherrschte Gebiet nennt, wird von rund 50 Staaten völkerrechtlich anerkannt, sie ist außerdem Mitglied der Afrikanischen Union. Rund 180.000 Saharauis leben in Flüchtlingslagern im benachbarten Algerien, das die Polisario unterstützt.

Anfang des Jahres gab der Europäische Gerichtshof (EuGH) einer Klage der Polisario statt, ein landwirtschaftliches Abkommen zwischen Marokko und der EU für ungültig erklären zu lassen, da es das – nach Ansicht der Polisario – widerrechtlich annektierte Gebiet der Westsahara mit einbezieht. Rabat reagierte gereizt. Es setzte die Handelsbeziehungen mit der Europäischen Union aus, die 2015 einen Wert von rund vier Milliarden Euro erreicht hatten. Bisher hat das Urteil noch keine direkten Auswirkungen, da es juristisch in die zweite Runde geht.

Damit nicht genug. UN-Generalsekretär Ban Ki-moon ließ bei einem Besuch der Westsahara das Wort „Besatzung“ fallen, was in Rabat einen Sturm der Entrüstung auslöste – eine Million Menschen protestierten in Marokko. Zudem will es die 84 Angehörigen einer UN-Mission zwangsweise nach Hause schicken, die ein Referendum über das künftige politische Schicksal der Westsahara vorbereiten sollen. 

Spanien nimmt diesbezüglich eine Sonderstellung ein; es ist sowohl Mitglied in der Europäischen Union als auch im UN-Sicherheitsrat derzeit vertreten, also für beide Gremien mitverantwortlich. Außerdem pflegen beide Länder intensive nachbarschaftliche Beziehungen.Das spanische und marokkanische Königshaus gelten als befreundet. 

Spanien fährt restriktiven Kurs in der Flüchtlingsfrage  

Ein Bruch dieser Bande könnte Rabat dazu veranlassen, die Flüchtlingskarte zu spielen und Hunderttausenden von Migranten den Weg freizugeben. Von Marokko bis zur südlichsten Spitze der Iberischen Halbinsel sind es nicht mehr als 14 Kilometer, aber auch die Entfernung zwischen dem nordafrikanischen Festland und den zu Spanien gehörenden Kanarischen Inseln, ist mit Zodiac-Schlauchbooten, die mit leistungsstarken Motoren ausgerüstet sind, relativ gut zu überwinden. Bis Fuerteventura sind es lediglich 120 Kilometer. Vor knapp zehn Jahren sind auf dem Archipel und an der andalusischen Küste rund 40.000 Flüchtlinge gestrandet. Erst als Marokko einen Riegel vorschob, ebbte der Flüchtlingsstrom ab.

Spanien fährt in der Migrationspolitik einen relativ restriktiven Kurs. Den EU-Quotenplänen zufolge sollte es einmalig 4.300 Flüchtlinge aufnehmen, akzeptierte aber nur 1.300. Madrid begründete dies mit einem „Sogeffekt“ und der hohen Arbeitslosigkeit im Land (rund 23 Prozent).

In die Spannungen zwischen der EU und Marokko haben sich inzwischen auch die USA eingeschaltet. Sie nannten den Autonomieplan Marokkos für die Westsahara „ernst, realistisch und glaubwürdig“. Washington will es sich mit dem arabischen Land nicht verscherzen, denn es ist ein wichtiges Mitglied im internationalen Bündnis gegen den islamistischen Terror. Die Informationen seines Geheimdienstes sind sehr begehrt.