© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/16 / 01. April 2016

Eine Panikwelle nach Europa tragen
Terror: Anschläge im Westen sind für den IS vergleichsweise preiswert zu inszenieren und überdies dienlich, den eigentlichen Kriegsschauplatz zu entlasten
Marc Zoellner

Spätestens seit den Terrorschlägen von Brüssel und Paris steht fest: Der Aktionsradius der Anhänger des selbsternannten Kalifats beschränkt sich längst nicht mehr auf den Nahen und Mittleren Osten. Auch Europa ist ein erklärtes Ziel der Terroristen. Gerade die Rückeroberung der syrischen Weltkulturerbestadt Palmyra durch die Truppen Baschar al-Assads könnte zum auslösenden Moment für weitere, noch folgenschwerere Attentate im Westen werden.

„Sie verfolgen drei gleichzeitige Pläne“, erklärte Harleen Gambhir, Terrorismusanalystin beim Institute for the Study of War, die derzeitige Zielsetzung des Islamischen Staates (IS) in einer kürzlich erschienenen Studie. „Ihr Territorium im Irak und in Syrien zu verteidigen, die Staaten der umliegenden Region anzugreifen, um größeres Chaos zu fördern, und den Westen zu attackieren, um zu bestrafen und zu polarisieren.“ 

Mit jedem militärischen Rückschlag im Nahen Osten gerät jedoch die Rekrutierung von Kämpfern für den IS in den Fokus. Zwar hätten sich bislang über 31.000 Freiwillige aus 86 Ländern dem Kalifat als Söldner angeschlossen, schätzt die US-Denkfabrik The Soufan Group. Doch seine personellen Verluste könne der IS längst nicht mehr mit konventioneller Rekrutierung wettmachen. Terrorakte im Westen seien hingegen vergleichsweise preiswert zu inszenieren und überdies dienlich, den eigentlichen Kriegsschauplatz zu entlasten.

„Der Unterschied zu 2014 ist, daß den IS-Kämpfern damals nur einige Wochen an Trainingszeit eingeräumt worden ist“, erklärte ein EU-Sicherheitsbeamter im Interview mit dem US-Nachrichtensender Fox. „Jetzt haben sie ihre Strategie geändert. Spezialeinheiten wurden gegründet. Ihr Training dauert länger. Und Ziel ist nicht mehr, so viele Menschen wie möglich zu töten, sondern so viele Terrorakte wie möglich durchzuführen, so daß der Feind gezwungen ist, immer größere Summen an Geld auszugeben.“

200 Terrorverfahren allein in Österreich

Tatsächlich lobte der Islamische Staat jüngst in einem Flugblatt, welche fatale Auswirkungen der Pariser Anschlag von gerade einmal acht Extremisten auf den Westen hatte. „Eine Welle der Panik und der intensivierten Sicherheitsmaßnahmen überflutet Europa“, berichtet das Pamphlet und verweist auf Bahnhofsevakuierungen und Länderspielabsagen von Moskau bis Hannover. „Laßt Paris eine Lektion für diese Staaten sein, die beachtet gehört“, schreibt der IS auch in der neuesten Ausgabe seines Propagandamagazins Dabiq.

Bis zu 600 europäische IS-Anhänger sind offiziellen Angaben zufolge bereits für europaweite Terroranschläge sowohl im Syrien und im Irak als auch in Ländern der GUS ausgebildet worden. Mit gefälschten Pässen gelangen diesen, versteckt zwischen echten Syrienflüchtlingen, über Griechenland und Italien sowie die Balkanroute gen Westen, um dort weitere Sympathisanten anzuwerben und auf ihren Einsatzbefehl  zu warten.

Der IS setzt dabei besonders auf frankophone Rückkehrer aus dem Kriegsgebiet. Allein aus Belgien und Frankreich sind immerhin knapp 2.300 der europaweit 5.000 Dschihadisten in den Nahen Osten aufgebrochen. Doch auch Transitländer wie Österreich sehen sich zunehmend einer Gefährdung ausgesetzt. „An die 200 Terrorverfahren“, berichtet die Wiener Zeitung Die Presse, seien vergangenes Jahr in der Alpenrepublik geführt und zwei Dutzend Angeklagte verurteilt worden.

Wie leicht der Islamische Staat auf europäischem Boden nicht nur an gefälschte Pässe, sondern selbst an Kriegsgerät gelangen kann, beweist der Fall des Aziz Ehsan. Ende März wurde der mit Haftbefehl gesuchte 46jährige IS-Logistiker in der Nähe von Neapel von Polizisten aufgegriffen. Einer der Vorwürfe gegen Ehsan lautet, Geschäftsbeziehungen mit der hiesigen Camorra angebahnt zu haben, um Geld und Drogen gegen Schnellfeuergewehre einzutauschen. Bereits im Vorfeld sind lokale Sicherheitskräfte auf Flugblätter gestoßen, die auf Arabisch, Französisch und Italienisch Waffen für Preise zwischen 250 und 3.000 Euro feilboten.

„Neapel war für viele Jahre zentrale Anlaufstelle für den Nahen Osten“, bestätigte der italienische Staatsanwalt Franco Roberti im Interview der US-Website The Daily Beast. „Die Camorra ist überaus aktiv an der Welt des Dschihad-Terrorismus beteiligt.“