© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/16 / 01. April 2016

Selbsterneuerung als Sozialverband
Sozialethik statt Religion: Erklärungen aus dem protestantischen Milieu, wie der Fremdenzustrom die Krise der Kirchen beenden soll
Wolfgang Müller

Nicht erst seit dem Sommer 2015 trommeln die beiden schwindsüchtigen „Volkskirchen“ für die Willkommenskultur. Lange vorher, nachdem im Herbst 2014 eine Welle orientalisch-afrikanischer Einwanderer nach Europa gedrängt war, prasselte auf die Besucher der katholischen wie evangelischen Weihnachtsgottesdienste bereits die frohe Botschaft von der „Bereicherung durch Flüchtlinge“ nieder. Kanzelpropaganda, die sich scheinbar zwanglos aus dem Alten wie Neuen Testament ableitete. Sei die Geschichte des Volkes Israel nicht ein ewiger Exodus? Beginnend bei Abraham, der seiner Heimat den Rücken kehrt, bis zu den Drangsalen des babylonischen Exils? Und dann selbstverständlich, wie für die Stunde gemacht, die Weihnachtserzählung aus dem Lukas-Evangelium, die dazu verführte, den Erlöser als Kind von „Flüchtlingen“ zu präsentieren, obwohl Maria und Josef doch nur innerhalb Palästinas zur Volkszählung unterwegs waren.

Aber wer wollte seitdem mit Quisquilien korrekter Bibelexegese und elementaren Wahrheiten christlichen Glaubens als dogmatischer Purist unliebsam auffallen? Zumal nach der Preisgabe der Grenzen im Herbst 2015? Tatsächlich gelang es Geistlichen und Kirchenfunktionären beider Konfessionen, mit einem Mix aus humanitaristischer Demagogie („60 Millionen Flüchtlinge weltweit“) und frömmelndem Kitsch („Auch Jesus war ein Flüchtling“) binnen kurzem etwa 200.000 freiwillige Helfer zu mobilisieren. 

Kritik an diesem Engagement war in der kirchlichen Öffentlichkeit selten. Das änderte sich nach den Übergriffen in der Kölner Silvesternacht. Auf der wichtigsten Plattform protestantischer Debattenkultur, der Zeitschrift Zeitzeichen, meldete sich eine moderate Gegenstimme zu Wort. Volker Körtner, Systematischer Theologe an der Universität Wien, durfte gegen die moralisch hochgerüsteten, tonangebenden Gesinnungsethiker leise an Max Webers Verantwortungsethik erinnern. Die gebiete es, den „handlungsfähigen“, seine Grenzen schützenden Rechtsstaat zu bewahren, denn ohne ihn gebe es überhaupt keine Zivilgesellschaft, die sich den Luxus eines Asylrechts leisten könne. Und keine ökonomischen Kapazitäten für die Aufnahme von Asylbewerbern und deren Integration. 

Wer dagegen realitätstüchtige Ethik mit christlicher Nächstenliebe ausheble, unterschlage, daß Jesu Gleichnis vom barmherzigen Samariter nicht als „Handlungsweisung für eine langfristige Migrationspolitik“ tauge. Jesus habe ein Einzelschicksal im Blick, nicht das Gemeinwohl. Folglich finde das Gleichnis auf den Staat keine Anwendung und schon gar nicht lasse sich daraus „die Forderung nach unbegrenzter Zuwanderung rechtfertigen oder gar das Recht von Flüchtlingen, in das Land  ihrer Wahl zu reisen“.

Obwohl Körtner unter stetig-serviler Zusicherung argumentiert, er wolle keine „Abschottung“, sondern ein „modernes Einwanderungsrecht“, provozierte sein Beitrag die Redaktion, im März-Heft mit der Antrittsvorlesung Arnulf von Schelihas zu kontern, gehalten im November 2015, bei Übernahme des Lehrstuhls für Ethik in der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster. 

Auf die Bibel beruft sich der Ethiker in seiner Körtner-Replik wohlweislich nicht. Sondern lieber auf „Klassiker unserer Tradition“, auf Immanuel Kant (1724–1804) und Friedrich Schleiermacher (1768–1834). Der Königsberger Philosoph, wie die meisten Bürger der deutschen Gelehrtenrepublik des 18. Jahrhunderts, das Elend krähwinkeliger Kleinstaaterei mit Kosmopolitismus kompensierend, deklariert in seinem Essay „Zum ewigen Frieden“ (1795) ein „Besuchsrecht“ für Flüchtlinge, aus dem von Scheliha im Nu einen „Baustein für die Weltzivilgesellschaft“ formt. Und, wie es Kant dreist verfälschend heißt, „zivilisatorischer Austausch“ setze „Wanderungen voraus“. Was nicht einmal für Kants Postkutschenzeit stimmt. 

Noch übler als Kant wird der Berliner Theologe Schleiermacher als Vorläufer der „No border“-Ideologie eingespannt. Könne man von ihm doch lernen, daß „Wanderung zum Menschsein des Menschen“ gehöre. Im krassen Kontrast zu solchem Nonsens gilt es in der Forschung viel eher als ausgemacht, daß der Erzvater des modernen Protestantismus der für das völkisch-religiöse Denken wichtigste Vermittler der Volkslehre Johann Gottfried Herders (1744–1803) bis ins 20. Jahrhundert hinein gewesen ist. Völker verstand Schleiermacher daher als Schöpfungen Gottes, deren Aufgehen in einer grenzenlosen, allgemeinen Menschheit nach seiner „christlichen Sittenlehre“ die Schöpfungsordnung schlechterdings zerstören würde.

Ebenso eigenwillig wie mit dem Bildungskanon, verfährt der desorientierte Ethiker von Scheliha mit der deutschen Geschichte. So erfindet er eine „Situationsanalogie“, die „uns Deutsche humanitär verpflichtet“, weil wir „Vertreibung und Not“ – offenkundig auch die der eigenen Landsleute aus den Ostprovinzen des Reiches – zu verantworten hätten. 

Randgruppen und globale Humanität statt Luther

Zudem seien die Deutschen im Verbund des Westens für die Misere im islamischen Raum „Mitverursacher“, so daß man sie keineswegs „gesinnungsterroristisch“ überfordere, wenn man ihnen jetzt jene aufbürde, die „ungezielter Kriegsgewalt“ entgingen. Daß 750.000 von einer Million Zuzüglern gar keine Kriegsflüchtlinge sind, kann von so hoher moralischer Warte aus schon mal aus dem Blick geraten. Solche lästigen Details stünden vor allem, so jubelt der von der EKD geförderte Publizist Henning von Vieregge (Heft 3/2016), der „Jahrhundertchance zur Selbsterneuerung“ im Wege, die die Integration von Flüchtlingen den Kirchen eröffne.

Ein Optimismus, den Joachim Kunstmann, Religionspädagoge an der Pädagogischen Hochschule Weingarten, sowenig wie Körtner teilt. Kümmere sich die Kirche Luthers nämlich weiter um „Randgruppen und globale Humanität“, definiere sie sich als „soziale Problemverwaltung“ und nicht mehr religiös, dann gehe sie nach dem Reformationsjubiläum 2017 „offensichtlich ihrem schnellen Ende zu“ (Heft 2/2016). 


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