© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 14/16 / 01. April 2016

Schreck, laß nach
Streß durch Freßfeinde kann die Fortpflanzung von Säugern noch Generationen später lähmen
Kai Althoetmar

Streß, Schocks und Gefahren fördern nicht gerade die Fortpflanzungsfreudigkeit – weder beim Menschen noch im Tierreich. Streßeffekte können sich bei Säugetiermüttern sogar über Jahre hinweg negativ auf die Reproduktion auswirken. Eine im Journal of Zoology veröffentlichte Studie zeigt am Beispiel nordamerikanischer Schneeschuhhasen: Streß, verursacht durch Raubtiere, kann die Fruchtbarkeit der Muttertiere auch dann noch dramatisch reduzieren, wenn die Gefahr, Beute zu werden, schon ganze Generationen zurückliegt. Die Tiere schränken die Fortpflanzung dann jahrelang ein, bevor sich die Populationen von dem Einbruch wieder erholen.

Schneeschuhhasen sind – wie Lemminge – bekannt für ihre acht bis zehn Jahre umfassenden Reproduktionszyklen: Hohen Populationsdichten folgen dramatische Einbrüche, verursacht durch Freßfeinde, in geringerem Maße durch Schwankungen im Nahrungsangebot. Die Hasen reagierten in der Untersuchung extrem sensibel auf eine Zunahme des Risikos, gefressen zu werden – und zwar mit einem Geburtenrückgang. Heftigkeit und Länge dieses Crashs variieren. „Das Rätsel dieser Zyklen“, schreiben die Forscher um Michael Sheriff von der Pennsylvania State University, „ist die Niedrigphase nach dem Niedergang, wenn es kein oder kaum Wachstum der Population gibt – trotz ausreichenden Futterangebots und der Abwesenheit von Freßfeinden.“

Die Wissenschaftler hatten für die Studie bereits vorhandenes Datenmaterial zur Populationsdichte der Hasen ausgewertet. Die Daten deckten die Jahre 1961 bis 2013 ab und stammten aus der Provinz Alberta und dem Yukon-Territorium. 

Je massiver der Einbruch, desto länger der Gebärstreik

  In der Spitze betrug die Populationsdichte 288 Individuen je Quadratkilometer, das Minimum lag bei 14. Ist die Geburtenflaute vorbei, folgen einige Jahre, in denen sich eine Population in etwa verdoppelt. Die Weibchen können zwischen März und August bis zu viermal Nachwuchs zur Welt bringen, meist zwei bis vier Junge – wovon das Gros aber Raubtieren, Schwäche oder Krankheit zum Opfer fällt. Die Fortpflanzungszyklen von Freßfeinden wie Rotfuchs, Graufuchs, Kojote, Wolf, Habicht und Virginia-Uhu folgen zum Teil dem der Hasen – aber mit ein oder zwei Jahren Verspätung. Beim Kanadaluchs ist dies nachgewiesen. Anders gesagt: Sind die Hasenbestände drastisch dezimiert, verhungern in den Folgejahren mehr Luchse. Die Forscher analysierten, wie heftig die zyklischen Einbrüche der Population jeweils waren und setzten diese Rate ins Verhältnis zur Dauer der anschließenden Geburtenflaute. Ergebnis: Je massiver der Einbruch, desto länger der „Gebärstreik“. Mehrfach verharrten die Populationen über vier oder fünf Jahre in einem Tief – aber nur dann, wenn der Einbruch zuvor schockartig stark verlaufen war. Verlief der Niedergang moderater, nahm die Fortpflanzung schon nach ein oder zwei Jahren wieder richtig Fahrt auf. Mit dem Nahrungsangebot war das nicht zu erklären. Wegen der nur einjährigen Lebenserwartung der Hasen folgern die Wissenschaftler, daß der hormonelle Streß der Muttertiere – ausgelöst durch erhöhten Jagddruck der Freßfeinde – noch an mehrere folgende Generationen weitergegeben wird. Dieser Befund ist ein Novum. Bislang war nur bekannt, daß sich Streß durch Freßfeinde auf die Geburtenrate der unmittelbar betroffenen Generation negativ auswirken kann, nicht aber auf „Enkel und Urenkel“.

Daß eine hohe Raubtierdichte den Spiegel des Streßhormons Cortisol erhöhte, war bekannt. Daß Streß sich vom Muttertier auf den Nachwuchs übertragen kann, bewiesen Rattenversuche, nicht aber die Wirkung über Generationen hinweg. Bekannt ist auch, daß das Auf und Ab im Reproduktionszyklus der Schneeschuhhasen aufhört und sich der Bestand einpegelt, wenn die Tiere raubtiersicher eingezäunt werden.

Der Studie zufolge wirkt sich der Druck von Freßfeinden damit nicht nur auf das Verhalten, sondern auch auf die Physiologie und Morphologie der Beutetiere aus, also auf biochemische Vorgänge sowie Struktur und Form des Organismus. Letzteres äußert sich darin, daß der Hase im Winter zur Tarnung seine Fellfarbe von braun zu weiß ändert.

Die Forscher sehen in ihrem Befund einen wichtigen Hinweis zum Management von Artenschutzprojekten. Streßfaktoren, seien es Störungen durch den Menschen, eine Dürre oder Feuer, könnten teilweise noch Generation später auf eine Säugetierpopulation nachwirken.

Studie „Predator-induced maternal stress and population demography in snowshoe hares“ im Journal of Zoology (Band 296/15)