© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/16 / 08. April 2016

Mehr Taktiker als Stratege
Nachruf: Hans-Dietrich Genscher hat sich vor 1989 nie zu einer operativen Wiedervereinigungspolitik entschließen können
Detlef Kühn

Hans-Dietrich Genscher, der am 31. März im Alter von 89 Jahren verstarb, war nicht nur einer der bekanntesten deutschen Politiker, sondern auch ein eifriger Erzähler von Witzen. Einer seiner Lieblingswitze, den er schon in den siebziger Jahren gern erzählte, ging so: Eilmeldung von dpa: Zwei Flugzeuge sind über dem Atlantik kollidiert; in beiden saß Genscher.

Wie viele Politikerwitze hatte auch dieser einen realen Kern. Genscher, von 1969 bis 1974 Bundesinnenminister und dann bis 1992 Außenminister sowie langjähriger Bundesvorsitzender der Freien Demokraten (FDP), verstand es vom Anfang seiner Karriere an meisterhaft, seinen Nimbus der „Allgegenwart“ zu pflegen, nicht zuletzt auch bezogen auf seine Medienpräsenz. Schon als Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion seit 1965 war Genscher ein Liebling der Medien, wie der Autor dieses Nachrufs als Geschäftsführer des Arbeitskreises I der Fraktion zuständig für Außen-, Deutschland- und Verteidigungspolitik damals aus nächster Nähe beobachten konnte. Als Außenminister war er fast täglich im Fernsehen zu sehen, auch wenn er in der Sache nur selten Substantielles zu berichten hatte. Diese Methode der Mediennutzung haben seine Amtsnachfolger fortgesetzt, auch wenn sie es nicht  zu seiner Perfektion brachten.

Das Verhältnis zur DDR, die Bemühungen um den Zusammenhalt der Nation standen in der Zeit der Großen Koalition von 1966 bis 1969 im Mittelpunkt der Politik der FDP, damals die einzige Opposition im Bundestag. Nationalliberal zu empfinden war für alle Abgeordneten der FDP eine Selbstverständlichkeit – unabhängig davon, ob ihr Interesse sonst mehr der Wirtschaftspolitik oder den Bürgerrechten galt. Thomas Dehler  und Erich Mende waren die wichtigsten Protagonisten dieser Politik. An ihre Seite trat nun Hans-Dietrich Genscher.

Er, der seiner Heimatstadt Halle leidenschaftlich verbunden war, vertrat diese Politik offensiv. Die FDP-Fraktion brachte im Bundestag den Entwurf eines „Generalvertrags“ mit der DDR ein, der 1972/73 dem Grundlagenvertrag mit der DDR zugrunde liegen sollte. Entscheidend war, daß die DDR-Regierung als Machtfaktor anerkannt wurde, ohne daß die DDR deshalb völkerrechtlich Ausland wurde. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Konstruktion mit der Maßgabe als grundgesetzkonform betrachtet, daß alle Organe der Bundesrepublik verpflichtet sind, am Ziel der Wiedervereinigung festzuhalten und diese aktiv anzustreben. Genscher, dem im Innenministerium auch eine Verfassungsabteilung unterstand, hat diese Festlegungen selbstverständlich aktiv begleitet.

Es bleibt allerdings auch in der Rückschau eine Tragödie, daß auch die FDP – ebenso wie die anderen staatstragenden Parteien – sich bis zur friedlichen Revolution der Deutschen in der DDR im Herbst 1989 nie entschließen konnte, eine operative Wiedervereinigungspolitik zu betreiben. Der Bundesaußenminister Genscher wurde am Ende sogar noch von Bundeskanzler Helmut Kohl düpiert, als dieser, der bis dahin, ebenso wie Genscher auch, in seiner Partei alle entsprechenden Initiativen abgeblockt hatte, am 28. November 1989 im Bundestag ein 10-Punkte-Programm vortrug, in dem endlich nach Monaten des Schweigens die Perspektive Einheit angesprochen wurde. Diese Erklärung war mit Genscher nicht abgesprochen. Er konnte nur noch auf den bereits fahrenden Zug zur Wiedervereinigung aufspringen.

Dies war charakteristisch für Genschers Einstellung zur Politik. Er war ein gewiefter Taktiker, der alle Antennen ausgefahren hatte, um die geringsten Bewegungen des Zeitgeistes zu registrieren. Ein Stratege, der die notwendigen Festlegungen traf und dann mutig voranging, war er nicht. Das wurde auch in seiner Einstellung zu Europa deutlich. Genscher sprach, ebenso wie Gorbatschow, gern über das europäische Haus, in dem sich viele Wohnungen befänden. Darüber, wie sich das auf die Lage im geteilten Deutschland und das Ziel der Wiedervereinigung auswirken könnte, reflektierte er bis 1989 öffentlich nicht. War es tatsächlich denkbar oder gar akzeptabel, daß die Deutschen in einem gemeinsamen europäischen Haus weiterhin im Zustand der Teilung leben müßten, wenn auch vielleicht „entspannter“? 

Nachwirkungen auf die Eurokrise 

Genscher hat sich und damit die FDP stets um die Entscheidung gedrückt, ob die Liberalen nun ein „Europa der Vaterländer“ oder einen europäischen Bundesstaat anstreben sollten. Diese Unentschlossenheit belastet Deutschland und damit auch Europa bis heute, wie etwa an dem endlosen Drama der Euro-Rettung zu erkennen ist.

Hans-Dietrich Genscher wird seinen Platz in der Geschichte finden. Ob sein Bild allerdings so positiv ausfällt,  wie das  viele Nachrufe suggerieren, ist zweifelhaft. Sicher ist nur:  Genschers Auftritt am 30. September 1989 auf dem Balkon der (west-)deutschen Botschaft in Prag wird im europäischen Gedächtnis verankert bleiben. Bei dem tausendfachen Aufschrei der Deutschen aus der DDR läuft auch dem Autor dieser Zeilen immer noch ein Schauer über den Rücken.

Foto: Vielflieger Genscher als Außenminister im Flugzeug (1992): Auf den fahrenden Zug aufgesprungen