© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/16 / 08. April 2016

Neue Nahrung für die Präventivkriegsthese
Der frühere NVA-General Bernd Schwipper präsentiert aus russischen Archiven handfeste Quellenbelege für einen geplanten Angriff Stalins auf Mitteleuropa im Frühsommer 1941
Heinz Magenheimer

Der Angriff ist zu beginnen 12.06.“ Diese Notiz von General Nikolaj Watutin, dem stellvertretenden General-stabschefs, findet sich auf dem älteren sowjetischen Aufmarschplan vom 11. März 1941. Diese nachträgliche Notiz entspricht einer Weisung vom 12. Juni 1941, höchstwahrscheinlich von Armeegeneral Georgi Schukow, Watutins Vorgesetztem, und hatte eine Bestandsaufnahme des auf Hochtouren laufenden Aufmarsches der Roten Armee zur Folge. Watutin legte sie tags darauf vor. Hieraus ist die Gliederung der Ersten und Zweiten strategischen Staffel in Westrußland in der endgültig vorgesehenen Dislozierung zu entnehmen. Der Aufmarsch von 254 Divisionen mit einem übermächtigen Schwergewicht im Südwesten – zehn Armeen mit 5.600 Panzern – unterstreicht den geplanten Offensivstoß in der ersten Phase der Operation in Richtung Krakau, Tschenstochau und Oberschlesien. 

Gestützt auf hauptsächlich sowjetische Dokumente

Die äußerst akribische und höchst aufwendige Untersuchung des Verfassers, eines Generals der ehemaligen NVA, stützt sich fast ausschließlich auf sowjetische Dokumente, die bisher von der etablierten Forschung vernachlässigt oder absichtlich ignoriert worden sind. Der Verfasser wertet die zahlreichen Quellen nicht nur gründlich aus, sondern präsentiert sie auch im Volltext oder in Auszügen. Sämtliche Weisungen und wesentliche Einzelbefehle finden sich fein säuberlich angeführt. Zahlreiche Kartenskizzen erleichtern das Verständnis des Textes. Da die politische Vorgeschichte des deutsch-sowjetischen Krieges längst umfassend dargestellt ist, konzentriert sich der Verfasser auf die bisher unterbelichteten militärischen Aspekte: Mobilmachung, Ausbildung, Ausbau der Rüstungsindustrie, Kriegsspiele, Westverschiebung der Truppen, vor allem aber die Operationspläne und den konkreten Aufmarsch 1941. 

Man sehe und staune: Es liegen so viele Quellen vor, daß es großer Sorgfalt bedarf, nichts Wesentliches zu vernachlässigen. Schritt für Schritt wird der Leser mit den gigantischen Angriffsvorbereitungen Stalins und Schukows vertraut gemacht. Trotz des umfangreichen Fakten- und Zahlenmaterials liest sich das Buch wie ein spannender Kriminalroman, wobei sich die Indizien immer höher auftürmen und schließlich die Bereitschaft der Roten Armee, Deutschland anzugreifen, untermauern.

Gemäß Mobilmachungsplan 41 sollte die Rote Armee bis 1. Juli 1941 eine Kriegsstärke von 8,68 Millionen Mann besitzen und hätte damit fast das Dreifache des deutschen Ostheeres umfaßt. Dazu diente eine getarnte Auffüllung der Verbände vor allem in den westlichen Militärbezirken in Form einer „gedeckten Teilmobilmachung“. Auch die Rüstungsfertigung erreichte ein enormes Ausmaß. Bis Jahresende 1941 sollten 32.600 Flugzeuge, davon 22.200 Kampflugzeuge, produziert und 60.000 Piloten ausgebildet sein. 

Am 22. Juni besaß die Rote Armee bereits einen Umfang von 5,6 Millionen Mann mit über 23.000 Panzern und 19.000 Flugzeugen. Gemäß Beschluß vom 5. Mai sollten im Jahre 1941 noch 2.800 der modernsten Panzer T-34 gebaut werden. Daß die sowjetische Führung sofort nach Kriegsbeginn die Einberufung von 5,3 Millionen Mann angeordnet hat, beweist, daß die Mobilmachung voll im Gang war. Autoren, die behaupten, daß die Rote Armee nicht mobilmachungsbereit und daher auch nicht angriffsbereit gewesen wäre, ignorieren die Fakten. 

Bereits im Sommer 1940 begann der Aufmarsch

Der sich von Monat zu Monat verstärkende Westaufmarsch begann nicht erst, wie manche Autoren glauben machen, als Reaktion auf den deutschen Aufmarsch im Frühjahr 1941, sondern bereits im Sommer 1940. Die Führung erhöhte mit Billigung Stalins kontinuierlich die Truppen der fünf westlichen Militärbezirke. Die vier Aufmarsch- und Angriffspläne (19. August und 18. September 1940, 11. März und 15. Mai 1941) unterstreichen ein schnell wachsendes Schwergewicht der Südwestfront, wo der Hauptstoß gemeinsam mit dem linken Flügel der Westfront zur Umfassung von drei bis vier deutschen Armeen geführt werden sollte. Als Fernziele werden Berlin, Wien und Danzig genannt. 

Die fünf westlichen Militärbezirke verfügten im Juni 1941 über 11.000 Panzer, wobei die stärksten mechanisierten Korps – durchschnittlich 650 Panzer – an den Schwerpunkten standen. Sie waren den deutschen Panzern um das Dreifache überlegen. Daß manche Verbände unter großem Zeitdruck standen, nicht die volle Ausrüstung besaßen und auch sonst Mängel aufwiesen, spricht nicht gegen die Angriffsabsicht. 

Die Kommandanten der westlichen Militärbezirke erhielten Ende Mai 1941 Aufmarschanweisungen, die den Verbänden ihre Dislozierung vorschrieben und dem Angriffsplan vom 15. Mai entsprachen. Timoschenko und Schukow hätten nie gewagt, diese Weisungen zu erteilen, wenn sie nicht vorher die Genehmigung Stalins eingeholt hätten. 

Maßgeblich ist auch der „Vorbefehl“ von Verteidigungsminister Semjon Timoschenko vom 11. Juni, aus dem hervorgeht, daß man zwischen 4. und 10. Juli einen Großangriff Deutschlands gegen Großbritannien annahm. Timoschenko befahl daher den westlichen Militärbezirken, am 1. Juli zur Durchführung von Angriffsoperationen bereit zu sein. Auch der Mobilmachungsplan 41 nennt den 1. Juli als Termin für die Herstellung der Kampfbereitschaft. 

Weitere Belege für die Angriffsabsicht sind die mit Hochdruck betriebene Anlage von frontnahen Flugplätzen, die Vorverlegung zahlreicher Jäger- und Jagdbomberregimenter, die Aufstellung von fünf Luftlandekorps, die eine hochmoderne Angriffswaffe bildeten, sowie die Anfertigung von Militärkarten mit einem Bild bis zur Linie Berlin–Wien–Budapest–Bukarest. Diejenigen Autoren, die behaupten, Stalin habe mit seinem gewaltigen Aufmarsch Hitler bloß abschrecken wollen, verkennen das Gesetz des Präventivkrieges. So waren es die Deutschen, die der Roten Armee um eine kurze Zeitspanne zuvorkamen.

Gliederung des deutschen Aufmarsches war bekannt

Verwirrend sind hingegen die Meldungen des Nachrichtendienstes, der mit einer Landung deutscher Truppen in England rechnete. Man braucht nicht viel Phantasie, um zu erkennen, daß eine solche Landung der beste Zeitpunkt für einen sowjetischen Großangriff gewesen wäre. Der Geheimdienst war aber offenbar Opfer seiner eigenen Fehler geworden, da er an die Existenz von acht bis zehn deutschen Luftlandedivisionen glaubte, die er als wichtiges Indiz mit Hinweis auf die Luftlandung in Kreta interpretierte. Stalin hingegen glaubte, daß Deutschland keinesfalls die Sowjet-union angreifen werde, solange es noch im Krieg mit England stünde.

Von einer Überraschung der Roten Armee durch die Wehrmacht, die oft als Indiz für die defensiven Absichten der Sowjetunion angeführt wird, kann keine Rede sein. Schukow und Nikolai Watutin kannten genau Stärke und Gliederung des deutschen Aufmarsches. Sie rechneten auch mit einem möglichen Angriff, dem man gemäß dem Operationsplan vom 15. Mai zuvorkommen wollte. Überrascht wurden am 22. Juni nur einige unmittelbar an der Grenze stationierte Einheiten, da bei ihnen der Alarmierungsbefehl nicht rechtzeitig eintraf. Zur Überraschung gehören Ahnungslosigkeit und mangelnde Vorbereitung. Beides traf auf die Rote Armee nicht zu. 

Armeegeneral S. P. Iwanow, der 1941 an der Verteidigung Leningrads mitgewirkt hatte, schrieb dazu: „Der deutschen faschistischen Führung war es buchstäblich in den letzten beiden Wochen vor dem Krieg gelungen, unseren Truppen zuvorzukommen.“ Dem ist im Sinne des sehr empfehlenswerten Buches nichts hinzuzufügen.






Dr. Heinz Magenheimer ist Militärhistoriker und lehrte an der Landesverteidigungsakademie Wien und an der Universität Salzburg. Er ist Autor des Werkes „Kriegsziele und Strategien der großen Mächte 1939–1945“ (Bielefeld 2006).