© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/16 / 08. April 2016

Europäer fliegen nicht zum Mond
Nach dem Scheitern des Projekts „Gehirnnachbau“ geht es in der Forschung in kleinen Schritten gut voran
Christoph Keller

Mitunter ist es ratsam, auf große  weiße, alte Männer zu hören. Auf den 1920 verstorbenen deutschen Soziologen Max Weber etwa. Der empfahl Visionären, wenn sie „Schau“ wünschten, sollten sie ins Kino gehen. Diese Therapie hätte die EU-Kommission auch dem „Visionär“ der Neurowissenschaften, dem an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL) tätigen Hirnforscher Henry Markram verordnen sollen, als er versprach, binnen zehn Jahren einen das menschliche Hirn nachbildenden Supercomputer zu bauen. Doch statt Markram, von dem israelische Ex-Kollegen jetzt sagen, „Henry war schon immer größenwahnsinnig“, den Weg ins nächste Brüsseler Lichtspieltheater zu weisen, erhielt er 2013 eine Milliarde Euro für sein Human Brain Project (HBP).

Für die Eurokraten, so erklärt der Journalist Stefan Theil das sich bald nach der Auszahlung der ersten 100-Millionen-Tranche anbahnende Desaster (Spektrum der Wissenschaft, 2/16), sei die von Markram offerierte „Vision“ aber einfach zu verführerisch gewesen. Es entsprach ihrer Denkweise, die ihnen suggerierte, wissenschaftlich-technologische Revolutionen mit zentral gesteuerten Zehnjahresplänen „machen“ zu können. Zudem bediente Markram sehnlichste Wünsche der EU-Bürokraten, nicht länger mit den Krümmungsgraden von Bananen und Gurken identifiziert zu werden, sondern mit epochalen zivilisatorischen Fortschritten.

Nach dem Motto: Die Amerikaner fliegen zum Mond, die Europäer bauen ein Gehirn. Damit, so die von Markram geschickt genährten Erwartungen, werde man zukünftig gegenüber den USA nicht nur in der Robotik der Computertechnik und den digitalen Dienstleistungen die Nase vorn haben, sondern, dank der präzisen Kenntnis aller, von 86 Milliarden Neuronen und 100 Billionen Synapsen organisierten Gehirnfunktionen, tückische Erkrankungen dieses Organs, allen voran Alzheimer und Parkinson, heilen können. 

Wie frühere großindustriell aufgezogene Forschungsunternehmen beweisen – das Manhattan Project zum Bau Atombombe, der Teilchenbeschleuniger der Europäischen Organisation für Kernforschung (Cern) bei Genf oder das drei Milliarden Dollar teure Humangenomprojekt (HGP) zur Entschlüsselung des Erbguts –, mußte allein die Dimension des HBP nicht skeptisch stimmen. Trotzdem glaubten 2014 rennomierte 156 Neurowissenschaftler in einem offenen Brief davor warnen zu müssen, daß die Geburtsfehler von Markrams Projekt offensichtlich auf dessen schnelles Ende zuliefen (JF 41/14). Jedem honorigen Neurowissenschaftler, so die 156 Unterzeichner, sei klar, man werde in den nächsten Jahrzehnten das Gehirn nicht so detailliert rekonstruieren können, um mit einem Computer Wahrnehmung, Gedächtnis, Emotionen oder gar, wie Markram versprach, „Bewußtseinszu- stände“ zu simulieren.

„Optogenetik“ an der Uni Heidelberg etabliert

Zudem versagten bei dieser hybriden Konzeption die Brüsseler Kontrollmechanismen, so daß der fast einsam über die Mittelverteilung entscheidende Markram die übrigen 112 beteiligten Institute zugunsten seiner EPFL-Hausmacht vernachlässigte. Erst der offene Brief bewirkte in Brüssel 2015 eine Entmachtung Markrams und eine Neuausrichtung des HBP, das sich nun auf die Entwicklung neuer Rechenwerkzeuge und mathematischer Modelle zur effizienteren Datenverarbeitung in der neurobiologischen Hirnforschung konzentriert.

Wie man mit bescheideneren Zielsetzungen und sparsameren Etats dem Gehirn einige Geheimnisse entlockt, demonstriert man an der Universität Heidelberg, wo sich im Sommer 2015 ein neuer Sonderforschungsbereich „Funktionelle Ensembles“ etablierte, der die Verbindung zwischen neuronalen Zellen und den systemischen Leistungen des Säugetiergehirns aufklären soll. Einen Schwerpunkt bildet dabei die Weiterentwicklung von Mikroskopier-Techniken, die es erlauben, die Aktivitäten tief gelegener Nervenzellgruppen zu messen. Das Zauberwort auf diesem innovativen Sektor heißt „Optogenetik“. 

Dahinter verbirgt sich die modernste Technologie, die Optik und Genetik miteinander kombiniert, um die Funktion einzelner Nervenzellen zu identifizieren und präziser zu erfassen, als dies mit der herkömmlichen Methode, Nervenzellen elektrisch zu reizen, möglich ist.

Die technischen Grundlagen der Optogenetik legten deutsche Biophysiker und Biologen in den 1990ern. Seitdem wurde ihr Verfahren optimiert, indem man die von ihnen verwendeten Kanalproteine aus den Zellmembranen von Algen genetisch veränderte und in Nervenzellen einbrachte. Die mit Licht aktivierbaren Proteine erlauben es, diese Zellen mit bisher unbekannter Genauigkeit an- und abzuschalten und Einblicke in die äußerst komplizierten Nervennetze des Gehirns zu bekommen. Hier verfolge man, wie Andreas Meyer-Lindenberg, Direktor der Heidelberger Uni-Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, erläutert (Ruperto Carola, 7/15), ein zwar theoretisch begrenztes, aber praktisch ungemein relevantes Erkenntnisziel: das Verständnis der Neuromodulation.

Dabei geht es um Botenstoffe wie Dopamin und Oxytocin. Solche Neuromodulatoren stellen die wichtigsten Angriffspunkte für die medikamentöse Therapie von Schizophrenie und Autismus dar. Beide Substanzen sind Produkte von tief im Hirn lokalisierten Gruppen von Nervenzellen, deren Funktionsweise nun optogenetisch exakter zu beobachten ist. Krankheitsrelevante Veränderungen des Botenstoffsystems könne man jetzt dank Optogenetik besser verstehen.

Die bisherigen Untersuchungen hätten bei Oxytocin gezeigt, wie es jene Hirnregionen moduliere, die bei sozialer Interaktion aktiviert werden. Substanzen, die die Oxytocin-Ausschüttung beeinflussen, seien mithin „aussichtsreiche Kandidaten für die Behandlung psychischer Störungen“ mit Auswirkungen auf das menschliche Sozialverhalten. Eine aktuelle Fragestellung ziele daher auf das Problem, ob Autismus mit Oxytocin therapierbar sei. Im Vergleich mit Markrams Vision ein kleiner, aber aussichtsreicherer Schritt auf dem Weg, das komplexeste Gebilde des Universums zu begreifen.





Human Brain Project (HBP) der EU

2005 wurde das Blue Brain-Projekt (BBP) von der Hochschule Lausanne (EPFL) mit Unterstützung des US-Konzerns IBM gegründet. Das Pionierprojekt sollte die Funktionsweise des menschlichen Gehirns durch die Bildung großangelegter Computermodelle (Blue Gene-Projekt von IBM) nachvollziehen. Geleitet wurde das BBP vom israelischen Hirnforscher Henry Markram sowie dem deutschen Physiker Felix Schürmann und dem US-Neurowissenschaftler Sean Hill. Im Oktober 2013 entstand aus dem BBP das Human Brain Project (HBP), für das die EU-Kommission bis 2024 insgesamt 1,19 Milliarden Euro eingeplant hat. Nach Kritik an HBP-Initiator Markram wurde das EU-Projekt umorganisiert. Es besteht derzeit aus 13 Subprojekten (SP), die von je zwei Experten geleitet werden. Markram leitet zusammen mit der Schwedin Jeanette Hellgren Kotaleski (KTH Stockholm) SP6 (The Brain Simulation Platform).

Human Brain Project (HBP) der EU:  www.humanbrainproject.eu

Blue Brain Project (BBP) der EPFL: bluebrain.epfl.ch