© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 15/16 / 08. April 2016

Der Flaneur
Berührende Begegnung
Sebastian Hennig

Der Umstieg vom Fernverkehr in die Berliner Stadtbahn überliefert den reisenden Provinzler der typisch großstädtischen Mischung aus Kleinstädtern und Dörflern aller Herren Länder. Seit mehr als hundert Jahren strömen diese Erwartungsvollen aus allen Richtungen des Landes und der Welt in die deutsche Hauptstadt. Allein ihr Hoffen und Staunen sorgt dafür, daß diese weiter als hoffnungsvoll und erstaunlich wahrgenommen wird.

Zwei so zu Berlinern gewordene junge Männer unterhalten sich über die vor ihnen liegenden Erfüllungen des Berufslebens: „Du mußt Budgetplanung machen, Investoren suchen, ist schon cool.“ Lapidar pflichtet ihm sein Gegenüber bei: „Ist cool.“ Es wird schwadroniert über „E-Learning“ und „Machine Learning“ und eine bedeutende Firma im fernen London. Eingepreßt in diesen fahrenden Korridor bestaune ich ihre Imagination.

Mit ungezwungener Lebhaftigkeit begleitet sie ihre Worte mit Kopfbewegungen.

Die physischen Standpunkte in der überfüllten S-Bahn ähneln sich zum Verwechseln. Sofort kommt man sich näher. Gegebenenfalls sieht man betreten aus, wenn man dem Nachbarn auf den Schuh gestiegen ist. Die Handbreiten der Stangen und Schlaufen sind bemessen. Da kommt es leicht zu sanften Handgreiflichkeiten. Beim erschrockenen Zurückweichen nach dem ungewollten Ertasten des anderen am belegten Griffplatz ist kaum ein Sturz zu befürchten. Federnd fänge einen das menschliche Umfeld auf.

An den großen Stationen leert sich der Wagen. Eine resolute Frauensperson hat ihr Haupthaar zu einem steif nach hinten abstehenden Bündel gewunden. In Kopfhöhe füllt sie damit die doppelte horizontale Ausdehnung eines üblichen menschlichen Hauptes. Im Ruhezustand ist das berechenbar. Doch mit ungezwungener Lebhaftigkeit begleitet sie ihre Worte mit Kopfbewegungen.

Die Verabschiedung von ihrem Gegenüber fällt besonders temperamentvoll aus. Sowohl amüsiert wie ehrlich anerkennend bemerkt eine Frau, die hinter ihr vom Schweif mehrfach gestriegelt wurde, zu dessen Eignerin: „Ein schöner großer Schwanz zum Schütteln, und so buschig.“