© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/16 / 15. April 2016

Utopie am Abgrund
Islamischer Staat: Die Terrorgruppe gerät in die Defensive. Das ist nicht beruhigend
Gabriel Burho

Der Islamische Staat (IS) befindet sich in einer Abwärtsspirale. Dies führt zu einer permanenten Verknappung der finanziellen Mittel und geht einher mit einer immer schlechteren Bezahlung der eigenen Kämpfer und entsprechender Frustration in den eigenen Reihen. Denn der IS verfügt nur über eine marginale interne Wirtschaft und stellt eine reine Beuteökonomie dar – in dieser Hinsicht ist er vergleichbar mit den Anfängen des islamischen Imperiums, das im Schatten der Expansion des Islams im 7. und 8. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung gewachsen ist. Als perfekter islamischer Wohlfahrtsstaat geplant, der seinen Bürgern – vor allem seinen Kämpfern und deren Familien – alle Dinge des täglichen Bedarfes kostenfrei zur Verfügung stellt, konnte dieses Konzept ohne eine konstante Ausbreitung und entsprechende Beute nicht lange überleben. 

Seit Ende 2015 mehren sich die Berichte, nach denen der IS mit größter Brutalität gegen „Abweichler“ und „Verräter“ vorgeht. Täglich gibt es Berichte über Hinrichtungen ganzer Familien oder ganzer Einheiten von eignen Kämpfern, denen „Flucht aus dem Gebiet des Kalifats“, „Zusammenarbeit mit den Feinden des Kalifats“ oder „Feigheit vor dem Feind“ vorgeworfen wird. Zusammengenommen alles Anzeichen dafür, daß die inneren Spannungen zunehmen, der IS sich immer mehr unter Druck sieht und vor allem seine Anhänger vom real existierenden Kalifat desillusioniert sind.  

Der militärische Druck auf den Terrorstaat nimmt sowohl in Syrien als auch im Irak immer weiter zu. Während in Syrien die strategisch wichtige Stadt Palmyra zurückerobert werden konnte und der IS damit die Kontrolle über weite Teile des Landes verloren hat, läuft im Irak seit Gründonnerstag 2016 eine Offensive, um die zweitgrößte Stadt des Landes, Mossul zu befreien. Gerade hier zeigt sich jedoch die größte Stärke des IS, die in der Schwäche seiner Feinde besteht. Nach anfänglichen Erfolgen kam der irakische Vormarsch schnell zum Erliegen. Offiziell wegen schlechten Wetters, inoffiziell wegen der Flucht weiter Teile der irakischen Armee nach den ersten Verlusten. Dank der intensiven internationalen Luftunterstützung dürfte allerdings auch die irakische Armee bald wieder einen neuen Vorstoß unternehmen und die Stadt dann vollständig abriegeln. Die Befreiung wird einen hohen Blutzoll kosten. 

Da die Reihen der Gegner des IS jedoch keineswegs geschlossen sind, sondern bestenfalls als Koalition von Feinden beschrieben werden können, wird jede Fraktion versuchen, den anderen Fraktionen die Hauptlast des Kampfes zu überlassen. Die Leidtragenden dieser zögerlichen Haltung sind die verbliebenen Einwohner, und es steht zu befürchten, daß der IS in seiner letzten Phase noch weitaus brutaler und in größerem Maßstab gegen die Menschen unter seiner Kontrolle vorgehen wird.

Mittelfristig wird es den lokalen Akteuren, unterstützt durch Waffenlieferungen, Militärberater und Luftschläge, aber gelingen, den Islamischen Staat militärisch zu schlagen. Damit sind die Länder Syrien und Irak jedoch immer noch weit vom Frieden entfernt. Die ungelösten ethnischen und religiösen Konflikte beider Länder werden auch in Zukunft Nährstoff für radikale Ideologien bieten und Rückzugsräume in Gegenden mit begrenzter staatlicher Kontrolle ermöglichen. 

Mittelfristig dürften allerdings die Tage gezählt sein, in denen sich das Kalifat als realer Staat präsentieren kann. Als terroristische Gruppe bleiben sie darüber hinaus gefährlich – vielleicht noch gefährlicher als heute. Der IS hat bereits gezeigt, daß er rund um das Mittelmeer und in Europa zu mehr terroristischen Aktionen fähig ist, als es al-Qaida in ihrer Blüte war. Sollte kein Staatsgebiet mehr zu verteidigen und zu verwalten sein, würden viele Kapazitäten frei, die direkt in terroristische Aktionen umgesetzt werden könnten. Bereits im Zustand der militärischen Defensive hat IS sich wieder seiner Wurzeln besonnen und ist zu immer mehr Taktiken der asymmetrischen Kriegsführung (Terrorismus) zurückgekehrt. Viele Kämpfer dürften sich zudem daran erinnern, daß die erstaunlichen Anfangserfolge des IS nicht zuletzt der Verbreitung von Angst und Schrecken geschuldet waren, die viele Feinde schon beim ersten Auftauchen der schwarzen Fahnen in die Flucht geschlagen hatten. Mit aufsehenerregenden Anschlägen könnte der Legitimitätsverlust ausgeglichen werden.

Das Erbe, das der Islamische Staat hinterläßt, wird dabei anders sein als das Erbe al-Qaidas. Auch wenn viele Gruppen, die dem IS in seiner erfolgreichen Anfangsphase die Treue geschworen haben, wieder ihre eigenen Wege gehen werden, wird doch in Erinnerung bleiben, daß ein „reales Kalifat“ möglich und erreichbar ist.

Der IS hat es geschafft, gerade außerhalb seines Kontrollgebietes eine geistige Heimat für enttäuschte, nicht integrierte, junge Muslime zu werden und diese mit den Träumen der „goldenen Zeit“ des Kalifats zu versorgen. Hier spielen neben Religion und Geschichte auch psychologische Faktoren der Selbstvergrößerung und Allmachtsphantasien eine Rolle. Die Gedanken vieler dieser Menschen dürften sich zunächst um Rache drehen. Doch auch eine Desillusionierung und Abwendung vom IS bedeutet noch keine Abkehr vom radikalen Islamismus. 

Die wahre Hinterlassenschaft des Islamischen Staates ist die Idee, daß sich durch Gewalt ein Utopia schaffen – und zumindest eine Zeitlang – auch beherrschen läßt. Auch wenn al-Qaida in dieselbe Richtung argumentierte, war man hier nie bereit, den Schritt tatsächlich zu gehen. In der internationalen salafistisch-dschihadistischen Szene werden sich Nachahmer finden.