© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/16 / 15. April 2016

Republik ohne Opposition
Deutschland langweilt sich: Allerweltsparteien meiden Kontroversen
Eberhard Straub

Opposition ist Mist. Laßt das die anderen machen – wir wollen regieren.“ Das rief am 21. März 2004 Franz Müntefering vor seiner Wahl zum Bundesvorsitzenden der SPD seinen Parteifreunden zu. Sein eindeutig abwertendes Urteil überraschte damals keinen gewissenhaften Demokraten in Deutschland. Warum auch?

1966 hatte der Jurist Otto Kirchheimer ein sehr modernes, für die Massendemokratie unvermeidliches Phänomen als am weitesten fortgeschritten in der Bundesrepublik gründlich in seinem Aufsatz „Germany: The Vanishing Opposition“ beschrieben. Das Verdunsten oder allmähliche Verschwinden der Opposition bekümmerte die Westdeutschen damals nicht weiter. Ganz im Gegenteil: Sie erkannten darin einen Fortschritt, den Übergang zur Konsensdemokratie, wie sie schon der greise Attinghausen in Schillers Wilhelm Tell 1804 vorweggenommen hatte mit seiner Aufforderung an die werdenden Schweizer: „Seid – einig – einig – einig“. Als Voraussetzung dafür galten die sogenannten Volksparteien, die dem Wähler suggerierten, für jeden einen besonderen Platz bereit zu halten, damit die Bundesrepublik wirklich zum Bund gleichgesinnter Republikaner werde.

Volksparteien streben nach Vereinheitlichung

Otto Kirchheimer, der 1933 emigrieren mußte, gehörte während der Weimarer Republik zum linken Flügel der SPD und verstand sich gegen Ende der Republik durchaus als Oppositioneller, um die für ihn wie für andere Parteipolitiker oder Juristen unzulängliche Reichsverfassung zu revidieren und darüber zu einer neuen, lebensfähigen Republik zu gelangen. Opposition erschien ihm damals als rettendes Lebenselixier in der Überlebenskrise der Weimarer Demokratie.

Nach dem Zweiten Weltkrieg beobachtete er keineswegs begeistert in den USA die unaufhaltsame Entwicklung zur catch all party, zur Allerweltspartei, deren Ziel der unmittelbare, breite Wahl-erfolg ist, mit dem ein authentischer, charismatischer politischer Führer den Auftrag erhält, zu führen, ohne überhaupt näher erläutert zu haben, wohin er führt. Zur Führung gehört Zustimmung, also Akklamation der Wähler, der Medien und der Verbände. Es geht um Personen, nicht um Programme. 

Die Allerweltsparteien und deren Führer vermeiden Kontroversen. Denn sie wollen gemeinschaftsbildend wirken und das politisch-soziale System, das alle umfängt, nicht durch Diskussion fragwürdig machen. Erfolgreiche politisch-soziale Integration aller Gruppen bewahrt gerade vor Kontroversen und damit vor Störungen der Konsensdemokratie.

Die Volksparteien vereinen das unübersichtliche Volk in der von ihnen bestimmten Gemeinsamkeit aller Demokraten. Sie sind die wahren Populisten, ein Wort, das Otto Kirchheimer noch nicht kannte, weil sie dauernd nach Vereinheitlichung und Homogenisierung, nach Integration und Assimilierung  streben, um keinen allein zu lassen. Deshalb meinen sie berechtigt zu sein, jeden Einzelgänger oder Kreise eigensinniger Sonderlinge zu ermahnen, sich nicht zu weit vom Konsens der Verfassungspatrioten zu entfernen.

Diesen Konsens schafft aber nicht das Grundgesetz. Der freie Markt mit seinen Grundgesetzen bewahrt vor grundsätzlichen Irritationen. Er ist der unentbehrliche Freund der Konsensdemokratien. Beim Einkaufen ist jeder ein Mensch, da ist er frei, entrückt der Selbstisolierung und der Zurückhaltung, die ihn noch quälen, solange er nicht über den Konsum in Einkaufsparadiesen umfassend vergesellschaftet ist und sich als Gleicher unter Gleichen fühlen darf. 

Die Aufgabe der meneurs de masses, wie der Franzose Raymond Aron die politischen, wirtschaftlichen und journalistischen Führungskräfte nannte, ist es, die Massen, die das Volk ersetzen, zu steuern, zu unterrichten und zu amüsieren. Sie gebrauchen zuweilen noch unterschiedlich nuancierte Sprachen, aber sie verkünden ein und dieselbe Botschaft: Niemals habt ihr es so gut gehabt, seid nett zueinander und, vor allem, werft den Karren nicht um. Auch Raymond Aron war einmal ein unbedingter Oppositioneller, der sich gegen die Dritte Republik empörte, weil sie sich mit der Niederlage 1940 abfand, weshalb er nach England flüchtete und sich dort den Widerstandskreisen um de Gaulle anschloß. 

Otto Kirchheimer und Raymond Aron waren sich darin einig, daß unter den Bedingungen der Konsensdemokratie Wahlen zu plebiszitären Veranstaltungen werden. Über sie wird die  Sitzverteilung der Parteien festgestellt, die obschon kaum noch voneinander zu unterscheiden,  dennoch an einer formalen Selbständigkeit festhalten. Denn sie brauchen einen gewissen Wettbewerb, in dem ihre Chancen, Anhängern einige berufliche und andere Vorteile zu verschaffen, jeweils neu ermittelt werden. 

Es geht wie auf dem Markt allein darum, in der Konkurrenz der Schnellere zu sein oder mit einprägsameren Parolen auf aktuelle Angebote aufmerksam zu machen. „Die Frage der Prioritäten, der Rangordnung der zu lösenden Aufgaben, die Methoden und Akzente, das wird immer mehr zum Inhalt der Meinungsbildung“, wie 1961 Willy Brandt zufrieden bemerkte. Er hielt es für völlig normal, daß in einer gesunden Demokratie die Parteien ziemlich ähnlich werden, ja inhaltsgleiche Forderungen erheben. Die Frage bleibt allein, wer im Wettlauf ein paar Schritte voraus ist. 

Diskussion, heftige Kontroversen, grundsätzliche Auseinandersetzungen sind in jedem Vernunftstaat unumgänglich, weil nur im Streit der jeweils einzuschlagende Weg ermittelt werden kann. Die Vernunft gebietet, daß in allen Angelegenheiten nicht ein Weg allein der alternativlos richtige sein kann.

Jedes abweichende Verhalten bereit Sorgen

Das Mißtrauen in die Opposition – gerade in der Bundesrepublik und in Österreich – ergaben sich aus den Folgen des Ersten und Zweiten Weltkrieges. Eine prinzipielle Opposition von links bis rechts erschwerte es nach 1919, sich in der neuen Verfassung zurechtzufinden. Der Kapitalismus blieb als Wirtschaftsform heftig umstritten, der Sozialismus in mannigfachen Variationen wirkte als Verheißung. Es gab nichts, worüber sich die prononcierten, politischen Gesinnungsgemeinschaften verständigen konnten. 

Nach den Katastrophen von 1933 und 1945 wollte man in Deutschland und Österreich nicht klüger für ein ander Mal, sondern gleich weise für immer sein. Kurt Schumacher, ein polemisches Talent, hielt 1949 gegen Adenauer an der Bestimmung fest, die seit dem liberalen Zeitalter der Opposition zukam. Er erwiderte auf Adenauers Regierungserklärung: „Das Wesen der Opposition ist der permanente Versuch, an konkreten Tatbeständen mit konkreten Vorschlägen der Regierung und ihren Parteien den positiven Gestaltungswillen der Opposition aufzuzwingen.“

Der Oppositionsführer befand sich in Übereinstimmung mit den besten liberalen und demokratischen Überlieferungen. Seine Partei wollte ihm nicht folgen. Spätestens seit dem Godesberger Programm 1959 bot sie sich als Regierungspartei an. Eine kämpferische Opposition machte freilich auch der Föderalismus unmöglich. In den Ländern kamen ganz andere Regierungsmehrheiten zustande, und aufgrund des unübersichtlichen Treibens zwischen den Fraktionen entwickelten sich überparteiliche Beziehungen, die durch den Einfluß der immer mächtiger werdenden Verbände entschieden gefördert wurden. Die Verwaltung achtete ohnehin auf den vorerst noch unausgesprochenen Proporz, der allmählich die gesamte Gesellschaft durchdrang. Ein Proporz bedarf, um reibungslos zu funktionieren, des Konsenses und damit weitgehender Konformität im Denken und Handeln.

Der Kalte Krieg erzwang eine Homogenisierung der Meinungen und Urteile, weil der Westen und der Ostblock sich im fundamentalen Gegensatz befanden und bekämpften. Die Suche nach einem Dritten Weg, um die Wiedervereinigung vielleicht auf ihm zu erreichen, machte von vornherein verdächtig. Die Blockbildung verhinderte jede freie Diskussion. Beim öffentlichen Meinungsaustausch handelte es sich meist um arrangierte Aufregung, bei der es hauptsächlich darauf ankam, jemanden auszuschalten und ihm jede Vernunft in seiner Argumentation abzusprechen.

Eine gereizte Nervosität in der Republik ohne Opposition gehörte bald zum Alltag. Denn jedes abweichende Verhalten – etwa der Auftritt der Grünen in Turnschuhen und Nietenhosen im Parlament – bereitete doch erst einmal wegen Nonkonformismus einige Sorgen. In der Regel gelang es sehr schnell, alles Ungewohnte mit den vertrauten Wonnen der Gewöhnlichkeit zu versöhnen und die allgemeine Harmonie vor kräftigen Störungen zu bewahren.

Die Republik ohne Opposition mit der hergestellten Übereinstimmung der Gemüter hat jetzt ihren Höhepunkt erreicht und überschritten. Alles ist alternativlos, vor allem die Regierung. Aber wie längst in Italien mit den Cinque Stelle, in Spanien mit Podemos oder in Frankreich mit dem Front National – um nur die großen alternativen Parteien in großen europäischen Ländern zu nennen – regt sich nun auch in der beschaulichen Bundesrepublik ein Unbehagen an der hergebrachten Behaglichkeit und Alternativlosigkeit. Es ist die Langeweile in der europäisch verwalteten Welt, die Überdruß erregt. „Frankreich langweilt sich“, so hieß es im 19. Jahrhundert, wann immer dort einige Kräfte für überraschendes Leben sorgten. Europa und in ihm Deutschland langweilen sich. Die etablierten Parteien sind überall ratlos geworden. Mit dem Verschwinden der Opposition, das sie beschleunigten, haben sie ihre Daseinsberechtigung verloren. Eine Ordnung erhält sich in wohltätiger Balance der Kräfte durch das Gegenwicht der Gegensätze. Sie braucht deshalb Opposition.