© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 16/16 / 15. April 2016

Der Pfarrer als Ersatzregierung
Nation und Kultur in Irland und Polen vor 1914
Sebastian Hennig

Eine Untersuchung über den kulturellen Nationalismus und Religion hat die Schweizer Anglistin Annina Cavelti Kee am Beispiel Irlands mit Vergleichen zu Preußisch-Polen unternommen. Sie widerspricht darin der Auffassung, daß kultureller Nationalismus lediglich innerhalb einer begrenzten intellektuellen Elite wirke. So beschreibt sie, wie über die Sportgemeinschaften („Gaelic Athletic Association“) und Verbände für Sprachpflege in Irland das Volk mobilisiert wurde. Das Eisenbahnnetz ermöglichte den ungehinderten Zustrom zu Massensportveranstaltungen wie dem archaischen, seit dem Mittelalter verbotenen Hurlingspiel.

Der katholischen Geistlichkeit kam eine maßgebliche Bedeutung zu. Denn in der Persönlichkeit des Priesters zeigte sich der einfachen Bevölkerung eine unmittelbare Autorität für ihren Alltag. So wurden die lokalen Repräsentanten der katholischen Kirche faktisch als eine Art „Ersatzregierung“ empfunden. In Irland waren sie bei der Etablierung von Organisationen wie der „Gaelic League“ einerseits treibend, zugleich aber auch mäßigend, indem es ihrer Moderation gelang, radikalere Forderungen zu mäßigen. Die britische Regierung nahm von ihrer Einflußnahme die katholische Kirche aus. 

Die Katholiken waren in Irland eine Mehrheit, dagegen im Deutschen Reich in der Minderzahl. Zudem wird ein anderer Charakter der Anglisierung und Germanisierung festgestellt. Während in Deutschland der intellektuelle Kulturkampf Bismarcks von außen hineinwirkte und vor allem die Privilegien des polnischen Adels gegen sich aufbrachte, was eine deutliche Verbesserung der Lebensverhältnisse für die Landbevölkerung in den Ostprovinzen mit sich brachte. Mit dem Unterschied zu Irland, wo die Adelsschicht die letzten Jahrhunderte londontreu war. Dennoch blieb der katholische Klerus im protestantischen Preußen eine Konstante, die nicht nur den Glauben, sondern auch die nationale Identität bis zur Wiedergründung Polens nach 1919 prägte. 

Cavelti Kee bedient sich bei ihrer zweizügigen Betrachtung einer „Histoire croisée“, einer Verflechtungshistorie, die nicht von festen Annahmen ausgeht, sondern die Fragestellung im Eindruck der Erkenntnisse modifiziert. 

Annina Cavelti Kee: Kultureller Nationalismus und Religion. Nationsbildung am Fallbeispiel Irland mit Vergleichen zu Preußisch-Polen, Peter Lang Verlag, Frankfurt 2014, gebunden, 290 Seiten, 64,95 Euro